Zwischen Ewig und Jetzt
einen Blick nach draußen zu. Ich kann gerade mal die Möbel auf der Terrasse erkennen, die dunkel sind vor Nässe: Der Garten dahinter ertrinkt in Grau und Grün. Das Wohnzimmer selbst ist eine Ansammlung von Schemen, die die Wohnlandschaften bilden; der Fernseher ist auch dieses Mal nicht zu sehen.
»Dort hinten«, sagt Erik und deutet auf eine kleine Sitzgruppe links in der Ecke, um die herum Bücherregale stehen. Erst als ich zwischen ihnen durch bin, sehe ich, dass sich der Raum zu einer Bibliothek erweitert, in die Erik mich jetzt führt. Inklusive großem Globus und Kamin in einer Nische. Rechts befindet sich ein Sideboard, darauf stehen Flaschen und Gläser.
Hier gibt es keine Fenster, und ich sehe noch weniger als im riesigen Wohnzimmer. Erik macht kein Licht an, und so brauche ich eine kleine Weile, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben und ich die Gestalt in einem der Sessel sehe. Die Gestalt, die niemand anders ist als …
»Justin!« Meine Stimme klingt erleichtert, und so fühle ich mich auch. Ich meine: Das ist Justin. Klar ist er ein Riesenarsch, aber das ist immer noch besser, als mit Erik allein zu sein.
»Julia«, sagt mein Halbbruder, der sich erhoben hat. Er hat ein Glas in der Hand, mehr kann ich nicht erkennen. Und dass seine Körperhaltung angespannt aussieht. Müde und angespannt.
»Was machst du denn hier? Ich meine: Kennt ihr euch?«
»Setz dich, Julia«, sagt Erik. Er deutet auf den Sessel Justin gegenüber. »Und du dich auch wieder, Justin. Die Fragestunde hat noch nicht begonnen.« Ich zögere wohl eine Sekunde zu lange, denn er gibt mir einen Schubs, der mich in den Sessel fallen lässt.
»Erik«, sagt Justin gequält, während ich mich mehr überrascht als ängstlich hinsetze.
»Was denn?« Eriks Stimme klingt zuckersüß. »Wir machen das hier für dich, schon vergessen? Das ist dein Geburtsrecht. Und sie will es dir nehmen.«
»Ja schon, aber …«
»Nichts aber. Sie hat das Testament«, sagt Erik gnadenlos.
Das Testament. Woher weiß er davon?
Erik geht rüber zum Sideboard, nimmt eine Flasche und ein Glas, schenkt sich etwas ein. Er sieht zu mir herüber. »Du auch einen Whisky, Julia?« Ich schüttele den Kopf. »Nicht? Du verpasst etwas.« Er stellt die Flasche zurück. »Und jetzt«, mit dem Glas in der Hand stellt er sich hinter Justins Sessel und stützt sich auf die Rückenlehne, »kommen wir zum heiteren Beziehungsraten. Wer kennt wen und wie lange? Und vor allem: Wer von uns ist schon tot?«
Ich kann weder Justins noch Eriks Gesichtszüge richtig erkennen, also können sie auch mein Entsetzen nicht sehen. Hoffe ich. »Justin ist mein Halbbruder«, beginne ich zögernd. Ehrlich gesagt ist mir immer noch nicht klar, was die beiden von mir wollen. An Justins Familiensinn zu appellieren erscheint mir im Moment jedoch nicht falsch. »Wir haben denselben Vater.«
»Bingo«, ruft Erik aus.
Ich erschrecke so sehr, dass ich erst einmal kein weiteres Wort herausbringe.
»Und weiter, Julia?« Erik trinkt einen Schluck Whisky. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht sein Erster ist.
»Wir … wir wussten lange Zeit nichts voneinander, aber Justin hat es herausgefunden und …« Ich zögere. Warum erzähle ich ihm das überhaupt alles? Aber noch bevor ich darauf eine Antwort finden kann, hat Annis Bruder mich schon unterbrochen.
»Halt, halt.« Erik räkelt sich auf der Sessellehne. »Halten wir doch fest,
wer
davon wusste.«
»Wa..., warum ist das wichtig?«
Eriks Augen werden zu Schlitzen. »Willst du nun herausfinden, warum wir dieses kleine Tête-à-tête hier veranstalten oder nicht?«
Wer also wusste von unserem Familiengeheimnis? »Mein … äh, unser Vater, meine Mutter, seine Mutter …«
»Bingo!«
Dieses fürchterliche »Bingo« geht mir echt auf die Nerven. Ich schließe kurz die Augen, atme durch.
»Seine Mutter. Unsere liebe, alte Renate. Die uns tot, entschuldige bitte, dass ich das sage, Justin, auch nicht viel nützlicher war als lebendig.«
Das muss ich erst einmal verdauen. Dann hat also sie … »Dann hat sie also doch den Brief geschrieben? Aber wie … wie hat sie ihn in meinem Biobuch versteckt? Und die Botschaft auf dem Computer?«
»Biobuch, Computer …« Erik lacht. »Das war natürlich ich. Und dabei ging es nicht mal um Justin und deine Erbschleicherei: Dabei ging es schlicht und ergreifend um deine Lügen. Und dass du meiner armen, kleinen Schwester den Freund ausgespannt hast.« Er macht eine
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