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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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lernte ich einen Jungen kennen, den ich toll fand. Justin. Er war viel älter als ich, sah gut aus. Er ging nicht auf meine Schule, aber wir trafen uns öfter. Gingen Eis essen. Ins Kino. Er hat mich … hat mich …« Nein, das kann ich nicht erzählen. »Irgendwann sagte er mir, dass er mein Halbbruder sei. Dass sein Vater seine Mutter betrügen würde und ich ein Nichts sei, ein Niemand, dem nichts gehören würde. Er fuhr mich zu sich nach Hause und präsentierte mich seiner Mutter. Sein Vater war auch da. Mein Vater.« Ich atme tief durch. Von nun an wird es leichter. Aus irgendeinem Grund wird es leichter, wenn man das erst einmal hinter sich hat.
    »Das war kurz vor dem Unfall. Vierzehn Jahre habe ich diese Lüge über meinen Vater geglaubt, habe an ihn geglaubt. Ziemlich dumm, was? Ich hatte ein Poster von Afrika an der Wand, alle Hauptstädte auswendig gelernt und wollte Ärztin werden. Ich wollte anderen helfen, Gutes tun, so wie er. Dann war Schluss mit der Lüge, und mein Vater wollte sich angeblich trennen. Von Justin und seiner Mutter trennen. Mich anerkennen als seine Tochter, meine Mutter heiraten. Das hat er zumindest behauptet. Aber er ist gestorben.« Ich setze mich. Lasse mich einfach auf sein Bett plumpsen, die einzige Sitzgelegenheit in seinem Zimmer außer dem Schreibtischstuhl, krieche bis zur Wand und lehne mich an. Weil ich mich mit einem Mal so müde fühle, dass ich unmöglich noch eine Sekunde lang stehen bleiben kann. Unmöglich. Und mein Mund ist auch müde, trotzdem fasse ich noch zusammen: »Das Haus, alles, was wir besaßen, haben sie uns genommen. Justin und seine Mutter. Meine Mutter hat keinen Anspruch auf irgendwas, und ich kann nicht beweisen, dass er mein Vater ist. Er ist verbrannt. Es gibt keine DNA -Analyse von ihm oder so. Und meinen sogenannten Halbbruder kann man nicht einfach so dazu zwingen, einem DNA -Vergleich zuzustimmen. Das dauert. Mein Vater war Ingenieur in Afrika, ich war seine Tochter. Dann war ich auf einmal nichts mehr. Ein Niemand. Von einer Minute zur anderen. Alle haben es erfahren, alle. Wir sind dann weggezogen.« Das war jetzt sehr, sehr kurz: In Wahrheit hatte es sich langsamer und quälender abgespielt. In Wahrheit verliert man Stückchen für Stückchen seine Identität, als würde sie einem herausgebissen. Als würde ein blutrünstiger Fisch kleine Stückchen Fleisch herausreißen und einen bei lebendigem Leibe fressen.
    Niki sagt gar nichts. Er kommt rüber, vorsichtig, als müsse er aufpassen, dass ich mich nicht auflöse oder so, setzt sich neben mich.
    »Mein Opa«, sage ich, und es ist das Letzte, was ich sage, »hat das Spiel mitgespielt. Aber ich glaube ihm jetzt. Ich glaube, dass er mich gemocht hat. Dass er mich sehen wollte und nur meinem Vater zuliebe gelogen hat. Das habe ich dir zu verdanken.« Und das ist mehr, verdammt mehr als Schafe miteinander zu hüten. Oder waren es Schweine? Egal. Irgendwas zu bewachen, halt.
    Niki sitzt plötzlich neben mir. Ich kann ihn riechen. Er riecht so unglaublich gut. Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf auf seine Schulter.
     
    Schon am nächsten Morgen ist alles wie immer. Kaum zu glauben, aber wahr. Nichts von dem, was ich bei Niki erlebt habe, was ich ihm erzählt habe, ändert das Geringste an meinem jetzigen Leben. Meine Vergangenheit wurde durchgeschüttelt, das schon, aber meinen Alltag berührt das kaum.
    Wir haben abgemacht, uns nicht zu grüßen. Niki hat es vorgeschlagen, und es hat mich erleichtert. Auch wenn ich mich immer noch mies fühle: Ich kann nicht schon wieder der Außenseiter sein. Nicht im Augenblick.
    »Ändert sich ja nichts für mich«, hat er gesagt und mit den Schultern gezuckt.
    Für mich allerdings schon. Jeden Morgen. Jeden Morgen werde ich Bescheid wissen über mich. Aber, wie schon gesagt: Nur weil ich es weiß, heißt es ja noch lange nicht, dass ich es deswegen mögen muss. Mich mögen muss.
    Mit meinem Opa haben wir nicht mehr gesprochen: Dazu fehlte mir einfach die Kraft.
    »Warum? Ist er denn hier?«, wollte ich trotzdem wissen.
    Niki hat gelächelt. »Er summt.
Somewhere over the rainbow
, wenn ich es richtig heraushöre. Es klingt recht schräg.«
    »Das war sein Lieblingslied.« Nein, niemand kann so viel über einen anderen Menschen wissen. Niki redet mit den Toten, soviel steht fest.
    Merkwürdigerweise ändert sich dadurch nichts an meinem »neuen« Leben: dem Leben, das ich jetzt führe. Ich stehe immer noch auf und gehe zur Schule. Ich bin immer

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