Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
Vom Netzwerk:
hoch, denn dasselbe gilt natürlich auch für mich.
    »Nicht, dass es ihm was genutzt hätte. Justin war so ziemlich der Erste, den Hans vergessen hat«, murmelt meine Mutter. Sie hat es nicht gemerkt. Erregt läuft sie auf und ab, das Telefon noch in der Hand.
    Tja, diesen Effekt hat Justin auf seine Mitmenschen. Auf meine Mutter und mich, vor allen Dingen. Justin, Halbbruder und Scheißkerl in einer Person. Würde es Justin nicht geben, wäre mein Dasein komplikationsloser verlaufen. Ich hätte noch mein altes Leben, meine alte Schule, Freunde, alles. Meinen Vater wohl nicht, denn an seinem Unfall trägt der Scheißkerl wohl keine Schuld. Nehme ich zumindest an. Obwohl: Er ist schließlich der Alleinerbe. Das ist ein Motiv, oder nicht?
    Aber jetzt mal im Ernst: An einen toten Opa zu glauben ist das Eine. An einen ermordeten Vater das Andere. Das ist irgendwie … noch unwahrscheinlicher, so merkwürdig das auch klingt. Justin hat unseren gemeinsamen Vater umgebracht? Nein, das kann ich nicht glauben. Das traue ich nicht mal dieser Kanalratte zu.
    »Und seine Mutter? Kommt die auch mit?«, lenke ich mich von meinen Grübeleien ab. Noch schlimmer als Justin alleine ist nur noch die Kombination mit Papas erster Frau. Papas alleiniger Frau, wenn man es so sieht: Mit meiner Mutter war er nie verheiratet.
    »Gott sei Dank nicht, soweit ich ihn verstanden habe.« Mama lässt sich in den Sessel fallen und streckt alle viere von sich. Das Telefon lässt sie kraftlos auf den Boden fallen. »Sie hat sich nicht sonderlich gut verstanden mit deinem Opa.«
    Ich erinnere mich noch an die große, kräftige Frau mit lila Lippenstift, die zur Beerdigung meines Vaters gekommen war. Ihr zur Seite stand Justin, gutaussehend, im perfekt sitzenden Anzug. Die beiden hatten sich wie selbstverständlich in die erste Reihe gesetzt. Die Witwe, der Sohn: Sie waren die rechtmäßigen Angehörigen. Wir saßen auf der anderen Seite, auch in der ersten Reihe. Und fühlten uns wie die letzten Betrüger.
    »Ich muss noch mal weg«, sage ich und schmeiße die Zeitschrift auf den Tisch.
    »Wirklich? Muss das sein?«
    Prompt komme ich mir mies vor. Aber ich kann sie jetzt nicht stützen, konnte es damals schon nicht. Als Stütze bin ich die absolute Fehlbesetzung. »Ja, ist wichtig. Ist was für Englisch.«
    »Gehst du zu Felix?«
    »Nein, wirklich. Für Englisch. Ich lerne mit Niki.« Immer schön bei dem erbärmlichen Rest Wahrheit bleiben, den man sich leisten kann.
    »Ist gut, Schatz. Komm nicht so spät.«
    »Sicher nicht.«
    Als ich rausgehe, angelt sie nach dem Telefon. Ich schlüpfe gerade in meinen Mangel, als ich sie sprechen höre. »Klaus? Hast du mal einen Augenblick?«
    Ich ziehe die Tür hinter mir zu. Das Leben wird immer komplizierter.
     
    Natürlich laufe ich dieses Mal nicht über den Hof, sondern betrete das kleine Geschäft vorne in dem Fachwerkhaus. Eine automatische Klingel ertönt, dann passiert erst einmal gar nichts. Der Empfangsraum ist nüchtern gehalten, mit gefliestem Boden, einer großen Pflanze in der Sitzecke. Auf dem Tresen liegen Broschüren über Selbsthilfegruppen,
Trauerfall – was nun?
, über den Umgang mit Behörden und merkwürdigerweise ein Anmeldeformular für einen Töpferkurs. An der Wand hängt ein Kalender mit dem Foto einer Engelsstatue auf irgendeinem Grab, gegen das Licht fotografiert und sehr atmosphärisch. Ich überlege, ob ich an Engel glaube. Ich überlege, ob ich
jetzt
an Engel glaube, nach dem, was mit meinem Opa passiert ist. Nein, keine Spur. Ich glaube ja nicht einmal an Gott, und das nachdem ich mit meinem toten Opa geredet habe und vorhabe, das noch einmal zu tun. Wenn Niki mich lässt.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Ich zucke zusammen und drehe mich zu dem Mann um, der mich angesprochen hat. Er ist ein bisschen untersetzt, hat einen dunklen Anzug an und lustige blaue Augen, die nicht zu seinem Beruf zu passen scheinen. Und er hat einen echt heftigen griechischen Akzent.
    »Herr Galanis?«, mutmaße ich drauflos. »Ich bin Julia. Ich wollte eigentlich zu Niki.«
    »Ah, Niki«, sagt er, als wäre ihm gerade jetzt erst eingefallen, dass er ja einen Sohn hat. »Natürlich Niki. Willkommen, willkommen.« Er stürzt auf mich zu wie auf die verlorene Tochter und schüttelt mir begeistert die Hand. »Eine Freundin, ja? Das ist schön, das ist schön. Julia, ja? Was für ein schöner Name. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, richtig? Oder so ähnlich. Julia!« Er strahlt mich an. Und

Weitere Kostenlose Bücher