Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
Vom Netzwerk:
behaupte ich und biege ab, bevor Felix etwas erwidern kann.
    Die Toilette ist voller quasselnder, aufgeregter Mädchen, die ein, zwei Jahre jünger sind als ich. Ich stelle mich in die Schlange und höre mit halbem Ohr zu. Es geht um Schule, um Jungs, um Ungerechtigkeiten und schlechte Noten. Nach spätestens zwei Minuten möchte ich sie anschreien und fragen, ob sie keine anderen Probleme hätten, ob sie vielleicht tauschen möchten, dann reiße ich mich zusammen. Schließe mich in eine Kabine ein und warte, bis es klingelt.
    Zu Physik komme ich zu spät. Die anderen sitzen schon in einer Gruppe zusammen und starren mich an, während ich mich entschuldige. Mir war schlecht, behaupte ich. Ich gehe auf meinen Platz neben Felix, der mich besorgt beobachtet. Besorgt und irgendwie auch wütend.
    »Ich hab gewartet«, flüstert er mir zu.
    »Sorry. Was Falsches gegessen«, erwidere ich und schlage mein Buch auf.
    Die anderen am Sechsertisch, alle aus der Clique, interessieren sich keinen Deut für Physik und haben sich angewöhnt, meine Notizen später von mir abzuschreiben. Fred und Anni lesen Modezeitschriften. Maximilian malt irgendwas: Sein Mund ist ein geschwungener Strich, die sonst so makellose Stirn gerunzelt vor Konzentration. Konrad wirkt völlig abwesend. Ab und an wirft er Felix und mir einen schwarzen, undefinierbaren Blick zu.
    Felix sieht mich an. Ich kann seine Wut fast in Wellen zu mir rüberschwappen spüren. In der kleinen Pause spricht er nicht mit mir. Ich allerdings auch nicht mit ihm: Ich zeichne eine Versuchsanordnung von der Tafel ab, nehme mir viel Zeit dafür. Dann, in der vierten Stunde, reißt ihm der Geduldsfaden.
    »Verdammt, Julia, was ist los? Hab ich was falsch gemacht? Bist du irgendwie sauer?«, flüstert er mir zu.
    Ich schüttele den Kopf.
    »Dann rede mit mir. Was ist los?«
    Tja, was soll schon los sein? Ich bin ein mieses, verachtenswertes Miststück, das es nicht einmal schafft, jemanden zu grüßen, der weit mehr für einen getan hat, als seine Schweine zu hüten. »Mein Opa ist gestorben«, flüstere ich zurück. Diese Nachricht ist wichtig genug, um alles andere in meinem Kopf auszulöschen. Zumindest zeitweise.
    Felix sieht getroffen aus. »Oh … das … das tut mir leid.«
    Wahrscheinlich tut es ihm leid, dass er so wütend auf mich war. Das hat er nun davon. Ich spüre so etwas wie Genugtuung.
    »Ich wusste gar nicht, dass du einen Opa hast.«
    »Hatte. Ich hatte einen Opa. Er hat schon länger im Heim gelebt und war krank.« Ich begegne dem Blick unseres Physiklehrers und sehe pflichtschuldig auf mein Heft.
    Felix lässt sich von der Aufmerksamkeit unseres Lehrers nicht beeindrucken. »Warte mal«, sagt er, »dein Opa ist tot und du läufst rüber zu Niki und quatschst mit ihm? Warum? War es deswegen?«
    Er ist auch wirklich zu scharfsinnig. »Natürlich nicht«, zische ich. »Das war wegen Englisch.«
    Felix sieht mich zweifelnd an.
    »Was denkst du denn? Dass ich ihn um eine Audienz mit meinem toten Großvater gebeten habe?« Genau das wollte ich tun. Trotzdem kann ich sehr entrüstet klingen, während ich es abstreite.
    »Nein, natürlich nicht«, sagt er. Er schüttelt den Kopf. Dann sieht er in Richtung Tafel und greift nach meiner Hand. »Tut mir leid, das mit deinem Opa.«  
    »Ja.« Was gibt es dazu auch noch zu sagen? »Mir auch.«
     
    Die Beerdigung muss verschoben werden: Justin schafft es nicht bis Freitag.
    »Das ist doch wirklich … Natürlich haben wir schon alles vorbereitet. Auch der Pfarrer … ja, die arbeiten nicht jeden Tag, weißt du? Und die Kapelle muss auch bestellt werden … Natürlich weiß ich, wo Hongkong liegt. Lass das bitte, Justin. Fang nicht wieder so an … Wieso seine Sachen? Was willst du denn mit seinen Sachen? Ich habe noch nichts weggepackt. Aber das Heim will das Zimmer natürlich so schnell wie möglich … Gut, ich warte. Ja, sag ich doch: Ich rühre nichts an. Ja. Bis dann.« Meine Mutter beendet das Telefongespräch. Ihr Gesicht ist rot vor Wut. »Also, Justin ist einfach, einfach …«
    »Eine widerliche Ratte?« Ich schaue nicht auf von meiner Zeitschrift. Ich weiß selbst, was Justin für ein Scheißkerl ist. Habe es buchstäblich am eigenen Leib erfahren.
    »So ungefähr. Jetzt will er mit einem Mal alle Sachen von Opa durchsehen. Möchte ein paar Erinnerungsstücke aussuchen. Erinnerungsstücke! Vielleicht hätte er die nicht so nötig, wenn er seinen Opa mal im Heim besucht hätte.«
    Jetzt sehe ich doch

Weitere Kostenlose Bücher