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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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Schule zu gehen war, als ob ich ein Vakuum betreten würde. Alles wurde leiser, gedämpfter, die Stimmen hörten auf. Auch die Stimmen der Lehrer. Ich saß nur noch da und malte Sternchen auf ein Blatt Papier. In den Pausen versteckte ich mich nicht mehr: Ich war eh unsichtbar.
    Karolin hat viel über Afrika geredet.
    Opa auch. Genau wie meinem Vater machte es ihm Spaß, mir davon zu erzählen. Geschichten zu erfinden. Ihm war es im Gegensatz zu Papa nicht einmal peinlich, wenn meine Mutter ihn dabei erwischte.
    »Lass mich doch, Ruth«, sagte er dann. »Es sind doch nur Geschichten.«
    Aber das waren sie eben nicht. Nicht für mich.
    Während ich meine Schlüssel suche, muss ich daran denken. An Opas Geschichten. Meine Vergangenheit war ein fremdes Land, in dem es Elefanten gab und es von Hitze nur so flimmerte. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein?
    »Dummer Elefant«, murmele ich. Ich stopfe das Sofakissen zurück, unter dem ich gerade eben noch nach meinem Schlüssel gesucht habe. Nein, hier ist er auch nicht.
    »Was?« Meine Mutter sieht hoch von ihrer Arbeit.
    »Ich hatte meinen eigenen Elefanten mit großen Ohren, weißt du noch? Opa hat mir davon erzählt. Er hieß Schewardnadse.«
    Meine Mutter muss lachen. »Ja, ich erinnere mich. Opa wäre es wahrscheinlich lieber gewesen, die Geschichte hätte irgendwo in Russland gespielt. In Afrika kannte er sich gar nicht aus.«
    Die Geschichte. Ein Spiel. Ich knie mich hin, um unter dem Sofa nachzusehen. »Alle Tiere, die mein Vater angeblich gerettet und gesund gepflegt hat, hatten russische Namen«, sage ich, als ich wieder auftauche.
    »Da warst du aber noch sehr klein, als er dir das erzählt hat«, kommt es von meiner Mutter.
    »Ja, natürlich. Ihr habt mich damit aber groß werden lassen.« Ich richte mich auf, klopfe mir die Jeans ab. »Später musste Opa sich bessere Geschichten ausdenken. Ich habe ihn mal mit einem Buch erwischt, einem Bildband über Afrika. Warum er das lesen würde, habe ich ihn gefragt, er könne doch einfach Papa aushorchen. Und er hat erwidert, mein Vater wisse nicht wirklich etwas über Afrika. Da hat er mal die Wahrheit gesagt, nehme ich an.« Ich beobachte mitleidslos meine Mutter. Ihren angespannten Gesichtsausdruck. Der Schmerz, der sich darin zeigt, wann immer wir auf meinen Vater zu sprechen kommen. Trotz Klaus, und irgendwie befriedigt mich das. »Hast du das Radio eigentlich noch? Das Radio mit der Kurbel?«
    Sie runzelt die Stirn. »Ein Radio mit einer Kurbel?«
    »Ja, wegen der Stromschwankungen.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, Julia. Ist es wichtig?«
    Ich sehe weg, blicke mich um. »Es gibt Stromschwankungen in Afrika«, murmele ich. »Opa hätte das gewusst.«
    Es wird eine Weile lang ruhig zwischen uns.
    »Was suchst du eigentlich, Julia?«, fragt meine Mutter dann, und eine Sekunde lang denke ich, sie meint es ehrlich. Will mit mir über meine Vergangenheit reden, das Leben, das ich damals ja geführt haben muss und das nicht nur Lüge gewesen sein kann. Dann merke ich, sie meint es wortwörtlich.
    »Meine Schlüssel«, erwidere ich.
    Meine Mutter greift neben sich und hält sie hoch.
    »Sag das doch gleich«, murmele ich und schnappe sie mir.
     
    Das Altenheim ist eins der billigeren Sorte. Das sieht man sofort an den einfachen Fliesen, und das riecht man auch: Es stinkt nach Kohl und Erbsen. In der Eingangshalle steht ein Flipchart, auf den jemand »Heute ist« und dann »Dienstag« geschrieben hat. Der Montag unter dem Dienstag ist nur schlecht weggewischt, und jetzt wirkt es, als seien zwei Tage auf einmal. Oder als würden die Tage ineinander verschmelzen, was sie hier wohl auch tun.
    Ich schleiche mich an der Rezeption vorbei, die eh nicht besetzt ist, und in den Fahrstuhl. Fünf Etagen! Dieser Bunker hat fünf Etagen: Das kann ja heiter werden. Jetzt wünsche ich mir doch, ich hätte meine Mutter nach der Zimmernummer gefragt, aber mir wollte partout kein Grund dafür einfallen, und ich wollte vermeiden, sie misstrauisch zu machen. Auch Felix hätte ich jetzt gut gebrauchen können, aber den konnte ich nach unserem Streit nicht mehr fragen. Es muss auch so gehen. Ich drücke seufzend auf die Eins.
    Der Fahrstuhl spuckt mich auf demselben Fliesenboden aus wie unten. Auch hier steht ein Flipchart, doch auf diesem steht groß » 1 . Etage«. Hier muss man wohl auf Nummer Sicher gehen. Ich biege um die Ecke und sehe einen langen, dämmrigen Flur entlang. Ganz hinten ist ein großes Fenster, doch bis

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