Zwischen Ewig und Jetzt
dahin liegen sicher dreißig Türen rechts und links. Allerdings wird mir die Suche erleichtert: Neben jeder Tür ist ein großes, gut leserliches Namensschild angebracht, daneben noch ein Foto. Ich brauche nur die Türen abzuschreiten und in die vielen runzeligen, meist ernst dreinblickenden Gesichter zu sehen.
Es ist still, irgendwo weiter weg klappert eine Tür. Immer noch riecht es nach Essen, aber es ist kein Mensch zu sehen: Vielleicht machen alle gerade Mittagsschlaf.
Nein, nichts: Etage Eins kann ich abhaken. Auf Etage Zwei ist es dasselbe. Alte Gesichter, Kohlgeruch, ferne Geräusche, die belegen, dass hier irgendwo noch Leben ist.
Auf der dritten Etage begegnet mir eine Frau mit einem Rollator, die mich mit runden Augen ansieht. Ich grüße sie, aber sie grüßt nicht zurück. Sieht mir hinterher, wie ich alle Zimmertüren abschreite und dann wieder an ihr vorbeikomme. Ihre weißen Haare sehen ungekämmt aus und stehen ihr vom Kopf weg, ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Trotzdem versuche ich es.
»Guten Tag«, wiederhole ich. »Kennen Sie sich hier aus? Ich suche das Zimmer von meinem Opa. Er hat auch hier gewohnt, aber jetzt ist er …« Ich breche ab, weil ich die Angst in ihrem Blick sehe. »Was ist denn? Geht es Ihnen gut?«
»Da!«, sagt die Alte, und ihre Augen werden noch runder. »Da!« Sie zeigt mit zitterndem Finger auf mich. Obwohl, das stimmt nicht: Sie zeigt an mir vorbei.
Ich drehe mich blitzschnell um, doch da ist nichts. Der Gang ist verlassen wie eh und je. »Was ist denn da?«, frage ich, als ich mich wieder zu ihr umdrehe, doch sie hat sich schon abgewendet. Schiebt, so schnell sie kann, ihr Wägelchen von mir weg. »Einen schönen Tag noch«, rufe ich ihr nach.
Naja, was erwarte ich eigentlich. Nicht einmal mein eigener Opa hätte gewusst, wo er hier gewohnt hat, ja, nicht einmal seinen eigenen Namen hätte er gekannt.
Im vierten Stock werde ich fündig. Zimmer 402 hat kein Namensschild und kein Foto mehr, alle anderen Räume schon. Das muss es sein. Ich blicke mich um. Wieder ist niemand zu sehen, irgendwoher dröhnt ein Fernseher in voller Lautstärke.
Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter: Es ist offen. Ich schlüpfe ins Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Und kriege fast einen Herzschlag, als sich gegen das Fenster eine Gestalt abzeichnet. Eine Gestalt, die sich jetzt zu mir umdreht.
»Hallo Julia«, sagt die Gestalt, sagt Justin.
Mein Halbbruder ist nicht mehr als eine schwarze Silhouette. Nur dass er breitbeinig dasteht, das kann ich erkennen. »Du hast wohl nicht erwartet, mich zu sehen?«
Mir fällt auf die Schnelle nichts ein. Mein Mund klappt auf und wieder zu. Mein Herz steht still.
»Julia, Julia.« Justin seufzt. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
So könnte man es wohl ausdrücken.
Er fährt sich durch das Haar. »Ich bin früher zurückgekommen. Glücklicherweise, sollte ich hinzufügen, sonst hätten wir uns noch verpasst.«
Mir fällt immer noch nichts ein, obwohl mein Gehirn langsam wieder seinen Dienst aufnimmt. Ausrede: Ich brauche eine Ausrede. »Ich wollte … ich war …«
»Klar wolltest du. Klar warst du.« Justin geht zwei Schritte nach links, um etwas abzusetzen, und endlich kann ich ihn auch sehen.
Er lächelt. Justin hat ein breites, blitzendes Lächeln, das eine Menge Zähne offenbart. Das gegelte, blonde Haar lässt ihn wie immer jünger aussehen: Als wir uns kennenlernten, war er gerade neunzehn geworden, sah aber aus wie sechzehn. Gegen sein jugendliches Aussehen spricht heute wie damals sein perfekt sitzender Anzug mit passendem Hemd. An dieser Perfektion hat sich nichts geändert: Selbst zum Eisessen oder um ins Kino zu gehen, musste es bei ihm damals mindestens ein Jackett sein. Der Anzug ist schwarz, genau wie bei unserer letzten Begegnung.
»Trägst du … trägst du immer noch Trauer wegen Opa?«, frage ich. Es soll spöttisch klingen, tut es aber nicht. Es klingt eher nach einem kleinen Mädchen, das beim Äpfelklauen erwischt wurde und jetzt irgendetwas sagt, um davon abzulenken.
Justin weiß das. »Trauer, ja.« Er fährt sich über die Stirn, sieht einen Moment lang tatsächlich traurig aus. Zumindest schwindet sein Zahnpastalächeln ein klein wenig. »Und du? Ist das deine normale Einbruchskleidung?«, schießt er dann zurück.
»Ich breche nicht ein. Die Tür stand offen.«
»Ach ja? Ich dachte, mein Anwalt hätte euch einen Brief geschrieben und darauf hingewiesen, dass
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