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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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zittert. Vor mir auf dem Boden wälzen sich zwei Gestalten, Niki und Justin, und ich kann im ersten Moment nur die Beine heben und mich auf das Bett zurückziehen.
    »Du mieses Stück Scheiße«, brüllt Niki, »lass die Finger von ihr, oder …«
    Der Rest geht in einem Klatschen über. Ein Keuchen und Ringen, ich bin wie gelähmt, dann sehe ich mit einem Mal eine Hand. Justins Hand, die immer noch ein Foto umklammert, das er nicht loslässt, während Niki auf ihm hockt, ausholt und zuschlägt.
    Ich starre auf das Foto.
    Justins Kopf fliegt nach rechts.
    Das Foto in seiner Hand.
    Niki holt noch einmal aus und …
    »Nein«, schreie ich. »Aufhören.« Ich zittere am ganzen Körper. »Hör auf, Niki. Lass ihn.«
    Niki sieht zu mir hoch. Seine Haare sind zerzaust, die Faust ist erhoben. Er atmet schwer, der Ring an seiner Unterlippe bebt. Dann steht er auf, schwankt.  
    Justin unter ihm kriecht sofort rückwärts, zieht sich an der Wand hoch und ist wieder auf den Beinen.
    Ganz im Gegensatz zu Niki: Irgendetwas stimmt nicht. Er steht einfach nur so da, vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt. Er schwankt.
    »Niki?«
    Mühsam richtet er sich auf, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Seine Augen: Er versucht, die Augen aufzumachen, zwinkert. Seine Arme zittern. Blut läuft ihm aus der Nase, über den Mund: Er scheint es nicht zu merken.
    Es ist wie damals, in seinem Zimmer, nur schlimmer.
    »Justin«, schreie ich meinen Halbbruder an, »tu doch was.«
    Justin steht nur da, ebenfalls schweratmend. Er sieht reichlich mitgenommen aus: Seine Anzugjacke ist verrutscht, das Hemd hängt ihm halb aus der Hose, der Kragen ist eingerissen. Ohne Niki aus den Augen zu lassen, streicht er über das Foto in seiner Hand, versucht, es wieder zu glätten.
    Nein, von Justin ist keine Hilfe zu erwarten. »Niki!«, konzentriere ich mich wieder auf ihn. Nicht anfassen, nicht anfassen, schießt mir durch den Kopf. Aber er muss hier raus. Irgendetwas stimmt nicht. War das Justin? Hat er Niki irgendwie verletzt? Soweit ich es gesehen habe, hat Justin sich gar nicht gewehrt: Er ist Linkshänder, hatte in der linken Hand das Foto umklammert, das er nicht loslassen wollte.
    Nicht anfassen,
klingen Felix’ Worte in meinem Kopf.
    Ich sehe mich panisch um, springe dann vom Bett und reiße die Tagesdecke herunter. Keine Ahnung, ob das was hilft: Ich werde es ja gleich sehen. Die Decke werfe ich über den gekrümmten Niki, schiebe ihn in Richtung Tür, die immer noch offen steht. Auf die Veranda. Zwei Stufen hinunter.
    Niki stolpert, stützt sich schwer auf mich, kann sich aber eben noch fangen. Ich dränge ihn weiter. Unter der Decke zittert er wie Espenlaub.
    »Er kann es«, ruft Justin hinter uns her.
    Ich blicke über die Schulter und sehe ihn im Türrahmen stehen, das Foto immer noch in der Hand.
    »Er kann sie hören.« Mein Halbbruder lacht. Es klingt furchtbar, viel zu hoch, zu schrill. »Er hört sie, er hört sie tatsächlich: Er hat es mir gezeigt.«
    Ich achte nicht weiter auf ihn, schleppe nur Niki weiter, über den Hof und auf die Straße. Leute starren uns an, es ist mir egal. Es gibt einen Park etwas weiter die Straße runter, dort bringe ich ihn hin. Das schmiedeeiserne Tor hindurch und auf die erstbeste Bank. Setze ihn dort ab, werfe mich keuchend neben ihn. Wir sind weg von Justin: Wir sind in Sicherheit.
     
    Noch immer hat Niki kein Wort gesprochen. Immerhin zittert er nicht mehr so stark. Er hat sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Das Blut ist ihm bis auf den Kragen seines T-Shirts gelaufen, und ich suche in meiner Jeansjacke nach einem Taschentuch. Finde ein ganzes Päckchen, o Wunder, und beginne, ihm das Blut abzuwischen. Wie schnell das trocknet! Ich nehme Spucke. Schließlich halte ich ihm ein neues Tuch unter die Nase und warte ab. Warte und denke. Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich mal wieder. Die Entführung, Justin, die Fotos. Mein Foto in einem Rahmen. Das Foto in Justins Hand. Justins Worte: mein Erbe. Will dir was zeigen. Die Einzige. Ausgerechnet du. Und dann dieses Lachen. Dies entsetzliche, gleichzeitig aber auch entsetzte Lachen: »Er hört sie tatsächlich.«
    Ich weiß nicht, wie lange wir dort sitzen. Es ist nicht kalt: Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, umflattern sich vor uns auf dem Weg. Ich kann sogar ein Eichhörnchen sehen. Ein Mann mit einem Hund kommt vorbei, eine Frau mit Kinderwagen. Keiner von ihnen spricht mit uns. Bietet uns Hilfe an.
    Niki atmet ruhig und

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