Zwischen Ewig und Jetzt
Tür, die geöffnet wird. Die Frau, der Mann. Der Mann ist mein Vater. Die Bilder: Überall hängen Bilder von Blumen. Die Frau, die schreit. Justin, der schreit. Mein Vater, der nicht schreit. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich kapiere, dass er auch der Vater von Justin ist.
In Justins Motelzimmer hängen auch Blumenbilder. Nicht so geschmackvolle wie in seinem Zuhause, nur zwei billige Drucke. Die Bilder damals waren Originale. Alles bei ihm war original, während ich nur die billige Fälschung war.
»Was willst du, Justin?« Plötzlich fühle ich mich schrecklich müde. So müde, dass es mir fast schon egal ist, was Justin dieses Mal vorhat.
Mein Halbbruder lässt sich in einen Sessel fallen. Über ihm thront gefährlich schief ein an der Wand angeschraubter Fernseher. Der Tisch vor ihm ist voller Bücher und Papiere. »Dir etwas zeigen. Und ich will dich warnen, Julia.«
»Mich warnen? Wovor?«
»Vor falschen Freunden. Freunden, die eine Grenze überschreiten.«
»Was?« Wäre schön, wenn er endlich einmal Klartext reden würde.
Justin sieht kurz hoch. »Freunden, die mit Toten reden.«
Ich starre ihn an, und er sieht weg. »Wo … woher weißt du das? Woher weißt du das mit Niki?«
Anstelle einer Antwort beginnt er, im Stapel vor sich herumzuwühlen.
Ich bin immer noch fassungslos. Meine Gedanken rasen. Felix muss ihm davon erzählt haben, Quatsch, er kennt Felix ja gar nicht. Irgendwer anders aus der Schule. Fragt er meine Freunde aus? Liegt er nach der Schule irgendwo auf der Lauer? Beobachtet er mich?
»Woher weißt du das?«, wiederhole ich, doch Justin würdigt mich keiner Antwort. Er sucht immer noch nach dem, was er mir zeigen will.
Ich werfe einen raschen Blick durchs Zimmer, auf das gemachte Doppelbett, die Nachtschränkchen rechts und links, auf denen ebenfalls Bücher liegen, in den offenstehenden Schrank mit den aufgehängten Anzügen, den Schuhen darunter neben einer Vase und einem Koffer. Ab und an kann ich einen Buchtitel lesen:
Die Geheimlehre, Ninja-Magie
oder
Atlas des Glaubens.
Anscheinend ist mein Halbbruder unter die Esoteriker gegangen. Entweder das, oder es gibt einen Managerkurs, bei dem sie so’n Zeugs brauchen: Das ist auf jeden Fall wahrscheinlicher. Die Tür zum Badezimmer steht offen, und ich überlege halbherzig, ob ich mich durch das kleine Fenster quetschen könnte, wenn es sein muss.
»Hörst du eigentlich etwas?«, fragt Justin mit einem Mal und hält in seiner Suche inne.
Ich lausche. »Was denn?«
»Ach nichts.« Justin wirft einen Blick zum Schrank. »Ich dachte bloß.« Wieder beginnt er in den Papieren zu wühlen.
Um nicht den Sessel direkt vor ihm nehmen zu müssen, setze ich mich aufs Bett. Die Tür liegt mir direkt gegenüber. Ich könnte hinspringen, sie aufreißen und weglaufen. Es gibt zwar keine Lobby, aber eine Anmeldung am Ende der Zimmerreihe, die ich bei unserer Fahrt hierher aus den Augenwinkeln gesehen habe. Bis dahin könnte ich es schaffen. Wenn ich schnell bin. Nur bin ich gerade gar nicht schnell, sondern müde. Das Gefühl der Bedrohung hat nachgelassen. Etwas Wut ist geblieben, schließlich hat Justin mich hierher entführt, aber auch die ist nur eine Art Alibi. Ehrlich gesagt bin ich sogar ein wenig neugierig, was mein Halbbruder mir zeigen will. Genau wie das letzte Mal.
»So schlimm kann es ja nicht sein«, murmele ich.
Justin sieht hoch. »Was?«
»So schlimm kann es dieses Mal nicht werden«, sage ich lauter. »Schließlich kannst du nicht noch einen Verwandten aus dem Hut ziehen, oder?«
Justin lacht auf, doch es klingt freudlos. »Aus dem Hut nicht. Weißt du denn nicht, Julia, dass alle Gespenster im Schrank wohnen?« Er schüttelt den Kopf. »Ah, da ist es«, sagt er schließlich und zieht ein Foto unter dem Stapel hervor. Ein paar Papiere kommen bedenklich ins Trudeln, ein Buch fällt zu Boden. Justin kümmert sich nicht darum. Er betrachtet das Foto nachdenklich. Dann wirft er mir einen zweifelnden Blick zu, als müsse er sich noch einmal überlegen, ob er es mir auch wirklich zeigen kann. Endlich trifft er eine Entscheidung, erhebt sich und kommt zu mir herüber.
Und dann bricht die Hölle los.
Mit einem lauten Krach wird die Tür aufgerissen und schlägt gegen die Wand. Ein Schatten fällt herein und stürzt sich von hinten auf Justin, der nicht einmal Zeit hat sich umzudrehen. Ich sehe eben noch seinen verdutzten Gesichtsausdruck vor mir und im nächsten Augenblick nur noch die offene Tür, die in ihrem Rahmen
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