Zwischen Ewig und Jetzt
mich nach Hause bringen?« Ich werfe ihm einen Blick zu, sehe seinen zusammengekniffenen Mund, die schmalen Augen. »Wohl nicht. Wir fahren also nicht zu uns. Wohin dann?«
Nach einer Weile weiß ich es, und es macht mich nicht gerade fröhlicher: »Ins Krüger, nicht wahr? Dorthin fahren wir.« Das
Krüger 21
ist ein Motel nahe der Innenstadt. Damit sinken meine Chancen, in der Hotellobby um Hilfe zu schreien, auf null: Es gibt keine Lobby. Wir fahren direkt in den Innenhof und vor eines der Zimmer.
»Krüger 21 , tatsächlich. Ich dachte, das sei weit unterhalb deines Niveaus«, sage ich, und meine Stimme klingt belegt.
»Es war das Beste unter diesen Umständen. Und es ist in deiner Nähe«, lautet seine Antwort.
Justin hält unter einem mit Steinen eingefassten Baum und stellt den Motor ab. Ich blicke auf die Blumen, die darunter gepflanzt sind. Vor keinem der anderen Zimmer, die allesamt auf den Innenplatz hinausgehen, parkt ein Auto. Zwei Zimmer weiter stehen zwei Stühle vor der Tür, ansonsten gibt es keine Anzeichen dafür, dass noch jemand außer meinem Halbbruder hier wohnt. Wir sind allein.
Justin hält mir die Tür auf, und ich steige aus. Die Blumen tritt er achtlos nieder, während er sich zu mir umdreht. »Kommst du? Oder muss ich dich wieder mitschleifen?«
Ich schlage mit Wut die Tür zu. »Das wirst du wohl müssen«, erwidere ich und mache keine Anstalten, ihm zu folgen.
Justin ist mit wenigen Schritten zurück, packt mich schmerzhaft am Arm. »Herrgott nochmal, Julia: Ich will nur mit dir reden. Dir etwas zeigen.«
»Müssen wir dazu in dein Zimmer gehen? Kannst du mir das nicht auch woanders zeigen? Ich kenne ein nettes Eiscafé in der Nähe …«
Er zieht mich wortlos mit. Bis zur Zimmertür. Aus seiner Manteltasche zieht er zunächst das Bild von mir, das er mitgenommen hat, dann einen Schlüssel. Er schließt auf. »Wenn ich bitten darf!« Er macht eine einladende Handbewegung.
Felix, flehe ich in Gedanken. Bitte, bitte, Felix. Bitte finde mich.
9 . Kapitel
T
his Is The Life,
sang Amy MacDonald, ich summte mit. Trotz Justins schlechter Laune fühlte ich mich gut: Wir waren zusammen, und das war schön. Das Auto gefiel mir, ich mochte das Lied. Es roch leicht nach Zigarettenqualm, obwohl Justin nicht rauchte. Ein Käfer war ja schon fast so etwas wie ein Oldtimer, doch dieser hier sah aus wie neu. Er hatte karierte Sitze und ein abgerundetes Schubfach, das ich zu öffnen versuchte.
»Lass das bitte«, sagte Justin, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Und dann: »Sitz still.« Als wäre ich ein Kind.
Ich schmollte ein wenig, aber nur kurz. Der Tag war viel zu schön gewesen. Ich hatte Justin getroffen, wir waren Eis essen gewesen. Und wir hatten uns geküsst. Das war das erste Mal, dass ich jemanden
so
geküsst hatte, ich meine: so! Es hatte sich himmlisch angefühlt. Als ob der Magen Purzelbäume schlagen möchte und hungrig ist nach mehr. Es war ein langer Kuss gewesen. Danach hatte Justin sich verändert: Er war stiller geworden, hatte sein Eis weggeschoben. »Ich muss dir was zeigen«, hatte er gesagt, und für einen Moment hatte ich Angst bekommen bei seinem Tonfall, aber nur kurz. »Nichts Schlimmes, hoffe ich?«, hatte ich zu scherzen versucht, doch er hatte nicht geantwortet.
Auch jetzt war er schweigsam. Seine Hände umklammerten so stark das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Wohin fahren wir?«, wollte ich wissen.
»Überraschung«, erwiderte Justin zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Mein Freund Justin. Fünf Jahre älter, erwachsen. Ich musste lächeln bei dem Gedanken. Wenn Mama das wüsste! Ich strich ihm durch das Haar, doch er zog den Kopf weg.
»Bitte, Julia. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«
Ich zuckte mit den Achseln und lehnte mich entspannt zurück. Nahm die Knie hoch und stemmte meine brandneuen Sneakers gegen das Handschuhfach. Dann betrachtete ich das Armband, das Justin mir vor ein paar Tagen geschenkt hatte: Ein schmales, schwarzes Lederband mit einem goldenen Herzanhänger. Wunderschön. Ich zog den Aschenbecher heraus und steckte mein ausgelutschtes Kaugummi hinein. Amy war zu Ende, jetzt kam etwas, das ich nicht kannte.
Und das war’s.
Bis dahin kann ich alles, was an dem Tag passiert ist, in sämtlichen Einzelheiten erzählen, danach ist Schluss. Ich habe keine Amnesie oder so: Klar kann ich mich erinnern. Aber die Bilder kommen bruchstückhaft wie von einem kaputten Projektor. Das Haus, die Auffahrt. Die
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