Zwischen Ewig und Jetzt
anfangen soll.
»Alles in Ordnung?«, fragt Niki und sieht mich von der Seite her an.
»Bei mir? Ich hätte
dich
fragen müssen, sorry, bin in Gedanken.« Obwohl er voller Blut war, hatte er nach seiner Rettungsaktion darauf bestanden, mich nach Hause zu bringen. Und die letzten Tage in der Schule hat sich keine Gelegenheit mehr ergeben, in Ruhe mit ihm zu reden. »Ist sie noch da?«
Wir wissen wohl beide, wen ich meine. Niki lächelt schwach. »Wo du bist, da ist auch sie: alles wie gehabt.«
»Ja, wie gehabt«, wiederhole ich automatisch.
Wieder gehen wir ein paar Schritte, bis Niki plötzlich unvermittelt fragt: »Felix ist weg?«
»Was?«
»Die Stimme. Sie sagt so etwas.« Er redet nicht weiter. Schüttelt nur leicht den Kopf.
»Ja. Er und die anderen sind bis morgen in Berlin.« Die Stimme redet über Felix? »Was sagt sie noch?«
Niki bleibt stehen. Sein Gesicht bewölkt sich, sein Mundwinkel mit dem Piercingring verzieht sich.
»Was denn?«
»Ach nichts«, murmelt er. Er geht weiter.
»Doch. Was denn?« Ich greife ihn am Arm, drehe ihn zu mir um.
»Nichts, wirklich.«
Ich rühre mich nicht.
»Es ist nur … die Stimme geht jetzt wirklich unter die Gürtellinie. Bislang war es ja nur die Lautstärke. Jetzt setzt sie noch ein paar deftige Beschreibungen drauf.«
»Beschreibungen? Welche denn?«
Niki lächelt gequält. »Es geht wohl um einen recht intimen Abend zwischen Felix und dir.«
Ich lasse ihn los. Mein Gesicht glüht. »Was sagt sie? Ich muss es wissen.«
Niki wendet sich mir zu, und seine Augen sind eiskalt. »Du bist ein Flittchen, eine Hure«, sagt er, und wie er es sagt, lässt mir ein Schauer über den Rücken laufen.
»Niki …«, beginne ich unsicher.
Niki blinzelt. »Das sagt sie. Das sagt die Stimme.« Er geht weiter, doch als ich ihm folge, bleibt er mit einem Mal abrupt stehen. »Lass ihn endlich in Ruhe. Du hast doch schon genug Unheil angerichtet.«
»Was? Wen denn?« Ich sehe mich unsicher um. Wir stehen mitten auf dem Bürgersteig. Autos fahren an einer Ampel an, eine Straßenbahn klingelt. Um uns herum ist der übliche Lärm und Gestank und keineswegs das Wattegefühl von Alice oder im Krankenhaus.
»Was?«, sagt Niki verwirrt, doch er macht keine Anstalten, sich zu rühren.
Und dann merke ich es. Ich merke, dass niemand mehr an uns vorbeigeht. Kein Passant, der uns entgegenkommt, geht wirklich an uns vorbei: Sie wechseln die Straßenseite. Was an dieser Stelle nicht einfach ist: Nur deshalb fällt es mir auch so auf. Ein Haufen Menschen läuft zwischen den Autos herum, überquert die Straßenbahnschienen, nur um auf die andere Seite zu gelangen. Nicht panisch, oder so, ganz normal. Unbewusst. Als sei es das Natürlichste von der Welt. Es wird gehupt. Der Verkehr gerät ins Stocken.
»Niki?« Ich versuche, ihm direkt in die Augen zu blicken, und ja, das ist es wieder, dies Pulsieren seiner Pupille, die mal weiter wird und sich dann zusammenzieht.
Ich frage mich wieder einmal, wer mich gerade jetzt durch seine Augen hindurch ansieht. Doch dieses Mal habe ich einen Verdacht.
»Luder, Flittchen«, sage ich. »So hast du mich damals genannt.«
»Und das bist du«, zischt Niki, der nicht mehr Niki ist, allerdings nur kurz. »Was? Hast du was gesagt?« Er blinzelt, reibt sich die Stirn. Sein Gesicht sieht angespannt aus, und er schließt einen kurzen Moment lang die Augen.
Eine Frau mit zwei Einkaufstüten kommt an uns vorbei. Sie streift mich mit einer davon, daher weiß ich, dass es, so schnell es kam, auch schon wieder vorbei ist.
»Ist sie weg? Ist die Stimme weg?«, will ich wissen.
Niki lauscht, schüttelt dann den Kopf. »Nein. Aber sie ist ein gehöriges Stückchen leiser als eben noch.« Er sieht mich aus seinen tiefblauen Augen an, die wieder warm, gleichzeitig aber verwirrt aussehen.
Ich nicke. »Dachte ich mir. Doch damit ist jetzt Schluss.«
Niki, der immer noch den Umschlag in der Hand hält, fragt: »Was meinst du damit?«
»Ich glaube, ich weiß, wer die Stimme ist.«
»Was?«
»Naja, ich bin mir nicht sicher. Es geht um etwas, das Justin gesagt hat. Und dieses Interesse an mir und an dem, was ich tue. Flittchen: So hat sie mich damals genannt. Vom ersten Augenblick an: Flittchen.«
»Wer?« Nikis blaue Augen sind auf mich gerichtet wie Scheinwerfer.
»Justins Mutter.« Ich halte seinem Blick stand. »Nur dass die, soweit ich es weiß, gar nicht tot ist.«
»Das kann ich nicht tun.« Ich flüstere fast. Sehe mich um, ob uns auch
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