Zwischen Licht und Dunkel
im allerletzten Moment platzt, funktioniert das meiste doch noch irgendwie. Der Isländer ist ein echter Improvisationskünstler und Meister im Troubleshooting. Die fehlenden Zutaten für die Cocktail-Häppchen wurden im Supermarkt um die Ecke besorgt, der rund um die Uhr geöffnet hat. Das besagte Pizza-Eröffnungsangebot war statt dessen in allen übrigen Filialen der Kette erhältlich. Und als das Essen bei der Abendveranstaltung viel zu früh zur Neige gegangen war, ließ sich die Situation mit dem Anruf in einem Restaurant retten. Von dort konnte der ersehnte Nachschub nach kurzer Zeit abgeholt werden.
Was die isländische Einstellung zur Pünktlichkeit betrifft, schadet es nicht zu wissen, dass das berühmte „akademische Viertel“ – die nach deutschem Maßstab akzeptablen fünfzehn Minuten Verspätung – nach inselinterner Auffassung unter die Rubrik „viel zu früh“ fällt. Zu diesem Thema ein Klassiker aus meinem Privatleben: Einmal waren Stefán und ich zu einer Konfirmationsfeier eingeladen, dem Großereignis im Leben eines Jung-Isländers. Was Geschenke, Büffet und Gästezahl betrifft, erinnert das Fest beinahe an eine Hochzeit. Ich stehe zum Abmarsch bereit, um nach meinem Ermessen pünktlich zum auf vier Uhr angesetzten Nachmittagskaffee zu erscheinen. Stefán dagegen ist noch nicht in Sichtweite. Zehn Minuten vor dem offiziellen Beginn der Festlichkeit kündigt er schließlich mittels Handy-Anruf sein baldiges Erscheinen an. Überraschenderweise bewahrheitet sich seine Prophezeihung. Er kommt direkt vom Streichen und Sägen aus seiner Werkstatt und steckt noch im Arbeitsoverall. Schnell unter die Dusche! Darüber hinaus sind noch wichtige Telefonate zu führen. Festnetztelefon und Handy klingeln abwechselnd, und obendrein wählt Stefán selbst noch ein paar Nummern an. Bereits um halb fünf gelingt uns der Abmarsch. Mit weniger als einer Stunde Verspätung erreichen wir unser Tagesziel … und sind längst nicht die letzten in der Runde. Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich in dieser Situation wenigstens meine äußere Ruhe bewahrte.
Aber hin und wieder funktioniert es doch. Im August 2008 hielt Eric Clapton ein Konzert in Reykjavík und ich gönnte mir ein Ticket. Am Vortag erreichte mich ein Erinnerungs-E-Mail der Kartenverkaufszentrale, das den Konzertgästen folgendes ans Herz legte: Sie möchten bitte daran denken, ausreichend Zeit für den Weg zum Veranstaltungsort einzukalkulieren. Es sei notwendig, sich in Geduld zu üben. Schließlich handle es sich um eines der größten Konzertereignisse, die Island bislang gesehen hätte. „Wir Isländer sind immer zu spät“, weiß der Organisator vor Ort zu berichten. „Wenn sich 13.000 Menschen auf dem gleichen Fleck versammeln, gilt es ein bisschen nachzudenken.“ Und tatsächlich: Unglaubliche zwei Stunden vor dem geplanten Bühnenauftritt des Gitarren- Großmeisters und „Islandfreundes“ – Eric kommt regelmäßig zum Angeln auf die Insel – waren bereits so viele Fans auf den Rädern, dass auch mein Auto im Anfahrtsstau steckte. Obendrein begann die Veranstaltung auf die Minute pünktlich. Ich war schwer beeindruckt.
Aber wie das im Leben oft so ist, haben diese strapaziösen Island-typischen Eigenheiten auch ihre positive Seiten. Fast möchte ich schon sagen: Nichts ist unmöglich! Einmal formulierte ein Isländer das seiner Meinung nach Beste an Reykjavík so: „Es ist ungemein einfach, etwas zu arrangieren. Zu jeder Zeit, Tag und Nacht. Es braucht nicht mehr als zwei Telefonate, um fünfhundert Plastikhummer oder Kopfhörer zu bekommen …“ Dieser Satz stand vor ein paar Jahren in einer vor Ort herausgegebenen englischsprachigen Zeitschrift. Mit diesem Ausspruch liegt der Urheber dieser Zeilen absolut richtig. Bereits auf meinem schicksalsträchtigen Islandurlaub hatte ich mit dieser eigentümlichen Effizienz Bekanntschaft gemacht. Der Teil meines Reisegepäcks, den ich auf die mehrtägige Hochland-Trekkingtour nicht mitschleppen wollte, wurde nämlich mit dem Linienbus an meinen Zielort vorausgeschickt. Zettel dran und ab die Post. Insgeheim hatte ich meine Habseligkeiten abgeschrieben. Doch zuverlässig wartete mein Rucksack auf mich, als ich aus den Bergen zurückkam. Auch falls ein Stück Reisegepäck auf dem Weg zum Flughafen versehentlich im falschen Bus landet, darf man getrost an der berechtigten Hoffnung festhalten, dass es den Weg ins Flugzeug doch noch rechtzeitig finden wird. Als ich nach einem längeren
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