Zwischen Licht und Dunkel
wuchtiger Grill hierzulande ein anerkanntes Statussymbol ist. Unser eigener Haushalt stellt die grillfreie Ausnahme dar. Aber ich kann sehr gut beobachten, was auf den Nachbarbalkons abläuft. Das heißt, eigentlich tut sich fast gar nichts. Denn meistens brutzelt das Grillgut in stiller Einsamkeit vor sich hin. Nur hin und wieder lässt sich eine menschliche Seele blicken, um es zu inspizieren. Sämtliche Essensgäste halten sich drinnen im Zimmer auf. Wahrscheinlich aus Platzmangel, weil der Grill den Balkon für sich beansprucht. Dank dieser Praxis soll es auch schon vorgekommen sein, dass dreiste Möwen die Steaks vom Grill stibitzten.
Auch sämtliche Heckenscheren und Rasenmäher werden zum ersten Sommertag aus ihrem Winterlager geholt. Letztere werden in den kommenden Wochen und Monaten nicht mehr still stehen, da dem Graswachstum fast nicht beizukommen ist. Rasenmähen wird zur echten Sisyphusarbeit. Rasen übrigens, der hierzulande in aller Regel nicht ausgesät, sondern als Rollrasenteppich verlegt ist. Kleine Elektromäher und Mähtraktoren verschiedenen Kalibers rattern überall. Der Sommer ist da.
Am 17. Juni grüßt ganz Reykjavík in den Nationalfarben. Auch der Kinderwagen meiner Tochter ist zur Feier des Tages rot, weiß und blau geschmückt. Er fügt sich damit bestens in das Gesamtbild ein. Ein kleiner patriotischer Ausbruch meinerseits. Es ist Lýðveldisdagurinn , der isländische Nationalfeiertag. Wie es das Schicksal so will, feierte Deutschland bis 1990 an genau diesem Datum seinen Tag der deutschen Einheit. Deshalb kann ich mir das isländische Datum so gut merken. Hier wurde am 17. Juni 1944 die Republik ausgerufen. Damit hatte sich die Insel endgültig von Dänemark losgesagt. Seitdem ist sie unabhängig. Das Datum wurde zu Ehren von Jón Sigurðsson gewählt, Leitfigur und Vorkämpfer in der isländischen Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Er hatte am 17. Juni Geburtstag. Die feierliche Kranzniederlegung zum Jahrestag an seinem Grab verpasse ich grundsätzlich. Aber nachmittags sind auch wir mit von der Partie. G leðilega hátið – frohe Festlichkeit! lautet dieses Mal die Grußformel des Tages. Der Festzug wird von den Pfadfindern angeführt, die stolz die Nationalflagge tragen. Bunte Luftballons und Zuckerwatte für die Kinder. Hüpfburg, Riesenrutschbahn und Dosenwerfen. Oldtimer-Ausstellung als Attraktion für kleine und große Männer. Warteschlangen vor dem Kaffeeausschank und der Waffelbäckerei. Jubel, Trubel und Heiterkeit für die ganze Familie. Es liegt Volksfeststimmung in der Luft. Jeder geht hin, jedes Jahr. So kommt es mir vor. Gleichzeitig bietet der Tag die Gelegenheit, sich im Nationalkostüm zu zeigen, das – wie ich finde – der traditionell bayerischen Tracht gar nicht unähnlich ist. Auch ich hatte mich kurzfristig mit dem Gedanken getragen, mir ein schönes isländisches Gewand zuzulegen, bin dann aber zu dem Schluss gekommen, dieses Vorrecht den „echten“ Isländern zu lassen.
Reykjavík City schafft es immer wieder, Zehntausende auf einen Streich in seinen Bann zu ziehen. Wo diese Massen nur immer herkommen? Winterlichtfest mit Museumsnacht und Food-&-Fun-Gourmet-Festival im Februar. Kunstfestival im Mai. Gay-Pride-Parade, Reykjavík-Marathon und Kulturnacht im August. Iceland-Airwaves-Musikfestival im Oktober.
Dann kommt der Winter. In den alten Tagen hatte man sich in der dunklen Jahreszeit besonders vor einer Gestalt in Acht zu nehmen: vor Grýla, der Menschenfresserin. Leibspeise: ungezogene Kinder. Ehemann: Leppalúði. Haustier: die Kinder verschleppende Weihnachtskatze. Grýlas dreizehn Söhne sind vielen Island-Interessenten bereits bekannt: Der lange, dürre Schafpferchpfosten Stekkjarstaur , der sich an die Milch der Mutterschafe heranzumachen versucht. Schluchtenkobold Giljagaur , der mit Vorliebe den Milchschaum aus den Melkeimern schleckt. Der Knirps Stúfur ist damit beschäftigt, Essensreste aus Pfannen zu kratzen. Kochlöffelschlecker Þvörusleikir macht sich an die hölzernen Umrührer heran. Vor Topfschaber Pottasleikir und Napfschlecker Askasleikir ist auch keine Küche sicher. Dazu gesellen sich Türenknaller Hurðaskellir , Quarkfresser Skyrgámur , Wurstklauer Bjúgnakrækir und Fenstergucker Gluggagægir . Der großen Nase von Schnüffler Gáttaþefur entgeht nichts und Fleischkraller Ketkrókur sowie Kerzenklauer Kertasníkir vervollständigen die Bande. Jahr für Jahr, immer wenn Weihnachten naht, machen sie sich auf
Weitere Kostenlose Bücher