Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
äußerte Tom sich nicht.
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Bei der Abfahrt vom Gas & Dash hatte sie vorgehabt, online zu gehen und zu sehen, ob sie ein Fuhrunternehmen, vielleicht eine selbstständige kleine Firma, finden konnte, das seinen Sitz in Colewich oder einer der umliegenden Kleinstädte hatte. Eine Firma mit einem Vogelnamen, vielleicht Hawk oder Eagle. Das hätten die Willow-Grove-Ladys getan; sie liebten ihre Computer und schrieben sich wie Teenager dauernd E-Mails. Abgesehen von anderen Erwägungen wäre es interessant, zu sehen, ob ihre Version von amateurhafter Detektivarbeit im richtigen Leben funktionierte.
Als sie die eineinhalb Meilen von ihrem Haus entfernte Ausfahrt 9 nahm, beschloss sie, erst ein bisschen über Ramona Norville in Erfahrung zu bringen. Wer weiß, vielleicht
würde sie entdecken, dass Ramona nicht nur bei Books & Brown Baggers den Vorsitz führte, sondern in Chicopee auch Präsidentin des Bündnisses gegen Vergewaltigungen war. Das war nicht einmal abwegig. Tess’ Gastgeberin war eindeutig nicht nur eine Lesbe, sondern eine männliche Lesbe, und so veranlagte Frauen hatten oft nicht einmal etwas für Männer übrig, die keine Vergewaltiger waren.
»Viele Brandstifter gehören der örtlichen freiwilligen Feuerwehr an«, bemerkte Tom, als sie auf ihre Straße abbog.
»Was soll denn das wieder heißen?«, fragte Tess.
»Dass du niemanden nach seinen augenscheinlichen Zugehörigkeiten beurteilen solltest. Das würden die Ladys des Strickclubs nie tun. Aber ihren Lebenslauf solltest du dir unbedingt ansehen.« Tom sprach in einem leicht gönnerhaften Ton, den Tess nicht erwartet hatte und der sie leicht irritierte.
»Wie liebenswürdig von dir, mir das zu erlauben, Thomas«, sagte sie.
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Aber als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem hochgefahrenen Computer saß, starrte sie nur fünf Minuten lang den Begrüßungsbildschirm von Apple an und fragte sich, ob sie wirklich vorhatte, den Riesen aufzuspüren und ihren Revolver zu gebrauchen - oder ob das Ganze nur die Art Phantasie war, auf die berufsmäßige Lügner wie sie selbst nur allzu leicht hereinfielen. In diesem Fall eine Rachephantasie. Auch derartige Filme mied sie, obwohl sie natürlich wusste, dass es solche gab; wenn man nicht als völliger Einsiedler lebte, konnte man sich gegen den Puls der Gegenwartskultur nicht völlig abschotten. In den Rachefilmen machten bewundernswürdig muskulöse Männer wie
Charles Bronson oder Sylvester Stallone sich nicht die Mühe, zur Polizei zu gehen, sondern legten die bösen Kerle einfach eigenhändig um. Westernjustiz. Na, wie schmeckt dir das, Dreckskerl? Soweit sie sich erinnerte, hatte sogar Jodie Foster, eine der berühmtesten Yale-Abgängerinnen, mal einen Rachefilm gedreht. Tess konnte sich nur nicht genau an den Titel erinnern. Vielleicht Die mutige Frau ? Jedenfalls irgendwas in dieser Art.
Ihr Computer wechselte zum Bildschirmschoner mit dem Wort des Tages über. Das heutige Wort war Kormoran , ganz zufällig ein Vogel.
»Wenn Sie Ihre Waren mit Cormorant Trucking versenden, fliegen sie förmlich«, sagte Tess mit ihrer tiefen Stimme, die Tom gehören sollte. Dann drückte sie eine Taste, und der Bildschirmschoner verschwand. Sie ging online, aber zu keiner Suchmaschine, zumindest nicht gleich zu Anfang. Als Erstes rief sie YouTube auf und tippte RICHARD WIDMARK ein, ohne irgendeine Idee zu haben, weshalb sie das tat. Jedenfalls keine bewusste.
Vielleicht will ich rauskriegen, ob der Kerl es wirklich wert ist, Fans zu haben, dachte sie. Nach Ramonas Meinung eindeutig.
Es gab jede Menge Filmchen. Am besten bewertet war eine sechsminütige Zusammenstellung mit dem Titel ER IST BÖSE, ER IST ECHT BÖSE. Mehrere Hunderttausend Leute hatten sie sich schon angesehen. Sie enthielt kurze Szenen aus drei Filmen, aber wirklich fasziniert war Tess von der ersten. Sie war schwarz-weiß und wirkte fast billig … aber sie stammte eindeutig aus einem dieser Filme. Das besagte schon der Titel: Der Todeskuss.
Tess sah sich das ganze Video an und kehrte dann noch zweimal zu dem Todeskuss -Segment zurück. Widmark spielte einen kichernden Gangster, der eine alte Frau in einem Rollstuhl bedroht. Er verlangt Informationen. »Wo ist Ihr
Sohn, der Verräter?« Und als die alte Lady nicht auspacken will: »Wissen Sie, was ich mit Verrätern mache? Ich schieße sie in den Bauch, damit sie sich lange rumwälzen und darüber nachdenken können.«
Die alte Lady schoss er jedoch nicht in den Bauch. Er fesselte sie mit einer
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