Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
polierten Frontlenkers, eines Sattelschleppers der Marke Peterbilt, auf dessen Tür in verschnörkelter Zierschrift RED HAWK TRUCKING COLEWICH, MASSACHUSETTS stand. Diesmal trug er seine braune Mütze mit den Bleichmittelflecken nicht, und der auf diese Weise sichtbare blonde Bürstenhaarschnitt machte ihn seiner Mutter auf fast unheimliche Weise noch ähnlicher. Sein fröhliches Mir-können-Sie-vertrauen-Grinsen kannte Tess von gestern Nachmittag nur allzu gut. Er hatte es noch zur Schau getragen, als er gefragt hatte: Wie wär’s, wenn ich dich ficken würde, statt deinen Reifen zu wechseln? Wie wäre das?
Der Anblick des Fotos bewirkte, dass das unheimliche Wutserum rascher durch ihren Organismus kreiste. In ihren Schläfen pochte etwas, das eigentlich kein Kopfschmerz war; eigentlich war es sogar angenehm.
Er trug einen roten Glasring.
Die Bildunterschrift lautete: »Al Strehlke, Präsident von Red Hawk Trucking, am Steuer des neuesten Fahrzeugs der
Firma, einem Peterbilt 389, Baujahr 2008. Dieser Koloss von einem Truck steht unseren Kunden, die DIE BESTEN IM GANZEN LAND SIND, ab sofort zur Verfügung. He! Sieht Al nicht wie ein stolzer Papa aus?«
Sie hörte, wie er sie eine Schlampe nannte, eine weinerliche Hurenschlampe, und ballte die Hände zu Fäusten. Sie grub die Fingernägel in die Handflächen, drückte noch fester zu, genoss den Schmerz.
Stolzer Papa. Dorthin kehrte ihr Blick immer wieder zurück. Stolzer Papa. Der Zorn pulsierte schneller und immer schneller, kreiste durch ihren Körper, wie sie im Kreis durch die Küche gelaufen war. Wie sie letzte Nacht den verlassenen Laden umkreist hatte: mal bei Bewusstsein, mal weggetreten - einer Schauspielerin gleich, die sich durch die Lichtkreise von Punktscheinwerfern bewegte.
Dafür wirst du bezahlen, Al. Und die Cops lassen wir außen vor; ich komme selbst kassieren.
Und dann gab es noch Ramona Norville. Die stolze Mama des stolzen Papas. Obwohl Tess sich in Bezug auf sie noch nicht ganz sicher war. Teils weil sie nicht glauben wollte, dass eine Frau zulassen könnte, dass einer anderen Frau etwas so Schreckliches zustieß, aber auch weil eine harmlose Erklärung denkbar war. Chicopee war nicht allzu weit von Colewich entfernt, und Ramona würde die Stagg Road ständig als Abkürzung benutzen, wenn sie dorthin fuhr.
»Um ihren Sohn zu besuchen«, sagte Tess und nickte. »Um den stolzen Papa mit dem neuen Peterbilt-Frontlenker zu besuchen. Vielleicht hat sie sogar die Aufnahme von ihm am Steuer gemacht.« Und wieso sollte sie der Gastautorin nicht ihre Lieblingsroute empfehlen?
Aber warum hatte sie nicht gesagt: »Diese Strecke fahre ich oft, um meinen Sohn zu besuchen«? Wäre das nicht irgendwie selbstverständlich gewesen?
»Vielleicht spricht sie über die Strehlke-Phase ihres Lebens nicht mit Fremden«, sagte Tess. »Die Phase, bevor sie kurze Haare und bequeme Schuhe entdeckt hat.« Das war möglich, aber es gab auch die mit Nägeln gespickten verstreuten Bretter zu bedenken. Die Falle. Norville hatte sie dorthin geschickt, und die Falle war rechtzeitig aufgestellt worden. Weil sie ihn angerufen hatte? Weil sie angerufen und gesagt hatte: Ich schicke dir eine Leckere, verpass sie nicht?
Das heißt noch immer nicht, dass sie beteiligt war … wissentlich beteiligt. Der stolze Papa kann verfolgt haben, wer bei ihr in der Bibliothek sprechen würde - wie schwierig wäre das?
»Gar nicht«, sagte Fritzy, nachdem er auf ihren Karteischrank gesprungen war. Er machte sich daran, eine Pfote zu putzen.
»Und wenn er ein Foto von einer gesehen hat, die ihm gefallen hat … eine halbwegs attraktive Frau … hat er wahrscheinlich gewusst, dass seine Mutter sie über die Stagg Road heimschicken …« Sie hielt inne. »Nein, so kann’s nicht gewesen sein. Wie hätte er ohne Input von seiner Mama gewusst, dass ich nicht nach Boston heimfahre? Oder nach New York zurückfliege?«
»Du hast nach ihm gegoogelt«, sagte Fritz. »Vielleicht hat er nach dir gegoogelt. Genau wie sie es getan hat. Heutzutage steht alles im Internet; das hast du selbst gesagt.«
Das hing logisch zusammen, wenn auch nur an einem hauchdünnen Faden.
Ihrer Ansicht nach gab es nur eine Möglichkeit, das zweifelsfrei festzustellen: durch einen Überraschungsbesuch bei Ms. Norville. Ihr in die Augen zu sehen, wenn sie Tess sah. Wenn in ihnen nichts als Überraschung und Neugier wegen der Rückkehr der Willow-Grove-Autorin - in Ramonas Heim statt in ihre Bibliothek - stand, war
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