Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
sie hegte offenbar keine Illusionen darüber, was hier manchmal abging, wenn die Gäste zu später Stunde betrunken waren. Schließlich war sie diejenige, die früh am Samstagmorgen herkam, um wieder ein paar Autobesitzer anzurufen. Vermutlich kannte sie vom Morgen danach schon mehr als genug Storys von mitternächtlichen Stürzen, Ausrutschern unter der Dusche et cetera, et cetera.
»Nicht hier«, sagte Tess. »Keine Sorge.«
»Auch nicht auf dem Parkplatz? Sollte das dort passiert sein, muss ich dafür sorgen, dass Mr. Ferrer mit dem Wachpersonal redet. Mr. Ferrer ist der Boss, und die Sicherheitsleute sollen die Monitore der Überwachungskameras regelmäßig kontrollieren, vor allem in Nächten mit viel Betrieb.«
»Es ist erst passiert, als ich weggefahren war.«
Jetzt muss ich wirklich anonym anru fen, wenn ich überhaupt Anzeige erstatten will. Weil ich lüge, und sie sich daran erinnern wird.
Wenn sie überhaupt Anzeige erstatten wollte? Natürlich wollte sie das. Richtig?
»Das tut mir sehr leid.« Neal machte eine Pause, als debattierte sie mit sich selbst. Dann sagte sie: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber in einem Lokal dieser Art haben Sie eigentlich nichts verloren. Ihr Besuch hat ein schlimmes Ende genommen, und wenn die Medien darüber berichten würden … nun, meine Oma wäre schrecklich enttäuscht.«
Tess stimmte ihr zu. Und weil sie sich darauf verstand, Storys überzeugend auszuschmücken (ein Talent, an dem sie zehn Jahre lang gefeilt hatte), tat sie es. »Ein schlimmer Freund nagt schärfer als ein Schlangenzahn. Das sagt die Bibel, glaube ich. Vielleicht war’s auch Dr. Phil. Jedenfalls habe ich mich von ihm getrennt.«
»Das sagen viele Frauen, bevor sie wieder schwach werden. Und ein Kerl, der so was ein Mal tut …«
»Tut es noch mal. Ja, ich weiß, das war dumm von mir. Was haben Sie denn aus meinem Besitz, wenn Sie meine Handtasche nicht haben?«
Ms. Neal drehte sich mit dem Sessel um (die Sonne glitt über ihr Gesicht und ließ kurz die ungewöhnlichen blauen Augen aufblitzen), zog eine Schrankschublade auf und brachte Tom das TomTom zum Vorschein. Tess war entzückt, ihren alten Reisegefährten wiederzusehen. Das machte zwar nicht alles wieder gut, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.
»Wir sollen nichts aus Gästeautos mitnehmen, sondern nur Adresse und Telefonnummer feststellen, wenn das möglich ist, und den Wagen dann absperren, aber ich wollte Ihr Navi nicht zurücklassen. Um an gute Geräte heranzukommen, schlagen Diebe sogar Scheiben ein, und das hier hat gut sichtbar in seiner Halterung auf dem Instrumentenbrett gesteckt.«
»Danke.« Tess spürte, dass ihr hinter der Sonnenbrille die Tränen in die Augen traten, und drängte sie zurück. »Das war sehr aufmerksam von Ihnen.«
Betsy Neal lächelte, was ihre geschäftsmäßig strenge Miene augenblicklich erstrahlen ließ. »Nichts zu danken. Und wenn Ihr Freund zurückgekrochen kommt und um eine zweite Chance bettelt, denken Sie bitte an meine Oma und alle Ihre übrigen treuen Leserinnen und schicken ihn zum Teufel.« Sie überlegte kurz. »Aber tun Sie’s mit eingehakter Sicherungskette. Weil ein schlimmer Freund wirklich schärfer nagt als ein Schlangenzahn.«
»Das ist ein guter Rat. Also, ich muss jetzt gehen. Ich habe dem Taxifahrer gesagt, dass er warten möchte, bis feststeht, dass ich meinen Wagen zurückbekomme.«
Und das hätte alles sein können - wirklich schon alles -, aber dann fragte Neal auf gewinnende Weise schüchtern, ob Tess ihr ein Autogramm für ihre Großmutter geben könne. Tess beteuerte, das sei ihr ein Vergnügen, und sah dann trotz allem, was passiert war, aufrichtig amüsiert zu, wie Neal einen Briefbogen des Stagger Inn hervorzog, die Kopfzeile abtrennte und ihr den Rest des Blatts über den Schreibtisch zuschob.
»Bitte schreiben Sie ›Für Mary, einen wahren Fan‹. Geht das?«
Natürlich ging das. Und während Tess das Datum hinzufügte, fiel ihr eine weitere Ausschmückung ein. »Ein Mann hat mir geholfen, als mein Freund und ich uns … na ja, gezofft haben. Ohne sein Eingreifen hätte ich noch schlimmer verletzt werden können.« Ja! Sogar vergewaltigt! »Ich würde mich gern bei ihm bedanken, aber ich weiß nicht, wie er heißt.«
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen kann. Ich bin nur die Bürokraft.«
»Aber Sie sind doch von hier, oder?«
»Ja …«
»Ich bin ihm in dem kleinen Laden an der Kreuzung mit der US 47 begegnet.«
»Dem
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