Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
auf einem Vorderreifen fuhr, den ein Mann montiert hatte, der sie fast umgebracht hatte. Al Irgendwas-Polnisches. Ein Lastwagen fahrender Hundesohn. »Mit einem Zwischenstopp.«
»Ich weiß nicht, was du denkst, Tess, aber du solltest vorsichtig sein.«
Wäre sie statt in ihrem Wagen zu Hause gewesen, und hätte Fritzy das gesagt, wäre sie genauso wenig überrascht gewesen. Stimmen und Gespräche hatte sie schon seit ihrer Kindheit erfunden, aber mit acht oder neun Jahren aufgehört, das in Gegenwart anderer Leute zu tun, außer um einen komischen Effekt zu erzielen.
»Ich weiß auch nicht, was ich denke …«, sagte sie, obwohl das nicht ganz stimmte.
Vor ihnen lagen die Kreuzung Stagg Road und US 47 mit dem Gas & Dash. Sie setzte den Blinker, bog ab und parkte den Expedition genau mittig vor den beiden Kartentelefonen. An der Hohlblocksteinwand sah sie die in den Staub geschriebene Telefonnummer von Royal Limousine. Die Ziffern waren krumm und schief, von einem Finger geschrieben, der nicht hatte still halten können. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und drückte fest zu. Dann stieg sie aus und ging zu dem Kartentelefon, das noch funktionierte.
Die Gebrauchsanweisung war zerkratzt, vielleicht von einem Betrunkenen mit einem Autoschlüssel, aber die wichtigen Informationen waren noch lesbar: Anrufe bei der Notrufnummer waren kostenlos, man brauchte nur den Hörer abzunehmen und die Nummer einzutippen. Kinderleicht.
Sie tippte die 9 ein, zögerte, tippte die 1, zögerte dann erneut. Sie stellte sich eine Piñata und eine Frau vor, die sie mit einem Stock herunterschlagen wollte. Bald würde ihr gesamter Inhalt herausstürzen. Ihre Eltern würden wissen, dass ihre einzige Tochter vergewaltigt worden war. Patsy McClain würde wissen, dass die Geschichte, sie sei über Fritzy gestolpert, eine aus Scham geborene Lüge gewesen war … und das Tess ihr nicht genug vertraut hatte, um ihr
die Wahrheit zu erzählen. Aber das waren eigentlich nicht die hauptsächlichen Dinge. Dass die Medien sich vorübergehend mit ihr befassten, konnte sie bestimmt aushalten - vor allem wenn es den Mann, den Betsy Neal als Big Driver kannte, daran hinderte, weitere Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Tess erkannte, dass sie vielleicht sogar als Heldin gelten würde - was sie vergangene Nacht, als das Urinieren so schmerzhaft gewesen war, dass sie dabei geweint hatte, und sie immer wieder an ihren Slip in der Brusttasche der Latzhose des Riesen hatte denken müssen, nicht einmal hatte erwägen können.
Nur …
»Was bringt mir das?« Sie sprach ziemlich leise, während sie die Telefonnummer betrachtete, die sie in den Staub geschrieben hatte. »Was ist für mich drin?«
Und sie dachte: Ich habe eine Waffe. Ich habe einen Revolver und weiß, wie man ihn gebraucht.
Tess hängte den Hörer ein und ging zu ihrem Wagen zurück. Sie sah auf Toms Bildschirm, der die Kreuzung Stagg Road und US 47 zeigte. »Ich muss noch etwas länger darüber nachdenken«, sagte sie.
»Was gibt’s da zu überlegen?«, fragte Tom. »Wenn du ihn umlegst und dann geschnappt wirst, sperren sie dich ein. Ob vergewaltigt oder nicht.«
»Genau darüber muss ich nachdenken«, sagte sie und bog auf die US 47 ab, die sie zur I-84 bringen würde.
Wie immer am Samstagmorgen war der Verkehr auf der Interstate schwach, und am Steuer ihres Expedition zu sitzen fühlte sich gut an. Beruhigend. Normal. Tom schwieg, bis sie an dem Schild AUSFAHRT 9 STOKE VILLAGE 2 MEILEN vorbeifuhren. Dann sagte er: »Weißt du bestimmt, dass das nur Zufall war?«
»Was?« Tess zuckte überrascht zusammen. Sie hatte Toms Stimme aus dem eigenen Mund kommen hören: in der tieferen
Stimmlage, die sie immer für den Phantasieteil ihrer Phantasiegespräche benutzte (eine Stimme, die sehr wenig Ähnlichkeit mit der künstlichen Stimme von Tom dem TomTom hatte), aber dies schien nicht ihr eigener Gedanke zu sein. »Soll das heißen, dass der Scheißkerl mich versehentlich vergewaltigt hat?«
»Nein«, antwortete Tom. »Ich sage nur, dass du dieselbe Strecke zurückgefahren wärst, wenn es nach dir gegangen wäre. Diese Strecke. Die I-84. Aber irgendwer hatte eine bessere Idee, stimmts? Irgendjemand hat eine Abkürzung gewusst.«
»Ja«, bestätigte sie. »Ramona Norville hat eine gewusst.« Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist ziemlich weit hergeholt, mein Freund.«
Dazu
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