Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Krebs erfasst, der ihn bald bei lebendigem Leib auffressen würde.
Er wollte zu seinem Wagen zurückgehen, als er das Schild auf der anderen Straßenseite sah. Zuerst glaubte er - wahrscheinlich weil seine Augen noch tränten -, es besage HAARVERLÄNGERUNG. Dann blinzelte er und sah, dass dort in Wirklichkeit FAIRE VERLÄNGERUNG stand. Und darunter in kleinerer Schrift: FAIRER PREIS.
Faire Verlängerung, fairer Preis. Das klang gut und irgendwie auch vernünftig.
Jenseits der Fahrbahn, außerhalb des Metallzauns, mit dem der County Airport eingezäunt war, erstreckte sich ein breiter Kiesstreifen. Dort bauten viele Leute tagsüber, wenn die Straße befahren war, alle möglichen Stände auf, weil
Kunden bei ihnen halten konnten, ohne einen Auffahrunfall zu provozieren (das heißt, wenn man schnell war und nicht zu blinken vergaß). Streeter, der sein ganzes Leben in der Kleinstadt Derry, Maine, verbracht hatte, hatte im Lauf der Jahre gesehen, wie Leute dort im Frühjahr frische Jungfarne verkaufen, Beeren und Maiskolben im Sommer und Hummer fast das ganze Jahr über. Nach dem Ende des Winters war dort der Schneemann anzutreffen: ein verrückter alter Kerl der allen möglichen Krempel verkaufte, der im Winter verlorengegangen war und dann durch die Schneeschmelze zum Vorschein kam. Vor vielen Jahren hatte Streeter ihm eine hübsche Stoffpuppe abgekauft, um sie seiner damals zwei oder drei Jahre alten Tochter May zu schenken. Er hatte den Fehler gemacht, Janet zu erzählen, dass er sie von dem Schneemann gekauft hatte, und sie wegwerfen müssen. »Glaubst du etwa, dass man eine Stoffpuppe auskochen kann, um sie keimfrei zu kriegen?«, hatte sie gesagt. »Manchmal frage ich mich, wie ein cleverer Mann wie du nur so dumm sein kann.«
Nun, Krebs machte keinen Unterschied, was Geistesgaben betraf. Ob clever oder dumm, er würde bald den Platz verlassen und seinen Spielerdress ausziehen müssen.
Wo einst der Schneemann seine Ware ausgelegt hatte, war ein Kartentisch aufgestellt. Den hinter ihm sitzenden pummeligen Mann schützte ein großer gelber Schirm, der keck schräg gestellt war, vor den Strahlen der rot untergehenden Sonne.
Streeter stand eine Minute lang vor seinem Wagen, wäre fast wieder eingestiegen (der pummelige Mann achtete nicht auf ihn; er schien sich auf einem kleinen tragbaren Fernseher etwas anzusehen), aber dann siegte seine Neugier doch. Er sah nach links und rechts, sah kein Auto kommen - die Verlängerung war um diese Zeit wie erwartet wie tot, weil alle Pendler zu Hause beim Abendessen saßen und es für
selbstverständlich hielten, keinen Krebs zu haben - und überquerte die leeren vier Fahrspuren. Sein hagerer Schatten, der Geist des künftigen Streeters, huschte hinter ihm her.
Der pummelige Mann sah auf. »Hallo«, sagte er. Bevor er den Fernseher ausschaltete, sah Streeter noch, dass der Kerl sich die Nachrichtensendung Inside Edition angesehen hatte. »Wie geht’s uns heute Abend?«
»Na ja, was mit Ihnen ist, weiß ich nicht, aber mir ist es schon besser gegangen«, sagte Streeter. »Bisschen spät, um etwas zu verkaufen, oder? Außer in der Hauptverkehrszeit herrscht hier kaum Verkehr. Wir sind hier nämlich auf der Rückseite des Airports. Hier wird nur Fracht angeliefert. Fluggäste fahren über die Witcham Street an.«
»Ja«, sagte der pummelige Mann, »aber leider verbietet der Flächennutzungsplan kleine Straßenstände wie meinen auf der belebten Seite des Flughafens.« Er schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit der Welt. »Ich wollte um sieben Schluss machen und heimfahren, aber ich hatte das Gefühl, dass noch ein potenzieller Kunde vorbeikommen könnte.«
Streeter begutachtete den Tisch, sah nichts, was zu verkaufen war (außer vielleicht der Fernseher), und lächelte. »Ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, Mr. …?«
»George Elvid«, sagte der pummelige Mann. Er stand auf und streckte eine ebenso pummelige Hand aus.
Streeter schüttelte sie. »Dave Streeter. Und ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, weil ich keine Ahnung habe, was Sie verkaufen. Auf den ersten Blick habe ich gedacht, auf dem Schild stünde Haar verlängerung.«
»Wünschen Sie denn eine Haarverlängerung?«, fragte Elvid und musterte ihn kritisch. »Das frage ich, weil Ihres schütter zu werden scheint.«
»Bald ist es ganz weg«, sagte Streeter. »Ich mache eine Chemo.«
»Du meine Güte. Das tut mir leid.«
»Danke. Was eine Chemo allerdings nutzen soll, wenn …« Er zuckte mit den
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