Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
hereinkam und mein tränenüberströmtes Gesicht sah, nahm sie an (Annahmen machen Sie und mich zum Esel), ich hätte geweint. Sie war gerührt, was ich für unmöglich gehalten hätte, und gab mir eine Morphiumtablette extra. Schließlich war ich ein trauernder Ehemann und Vater. Ich hatte Trost verdient.

    Und wissen Sie, warum ich lachte? Über Jones wohlmeinende Dummheit? Das glückliche Auftauchen einer toten Landstreicherin, die vielleicht von ihrem Begleiter umgebracht wurde, als beide betrunken waren? Ich lachte über beides, aber vor allem über den Schuh. Der Farmer hatte nur angehalten, um festzustellen, worum die Kojoten sich balgten, weil er im Straßengraben einen Frauenschuh aus Lackleder hatte liegen sehen. Aber als Sheriff Jones sich an jenem Tag im vergangenen Sommer bei mir nach Schuhwerk erkundigt hatte, hatte ich ihm erklärt, Arlette habe ihre Leinenschuhe getragen. Das hatte der Idiot vergessen.
    Und es fiel ihm auch nie wieder ein.
     
    Als ich auf die Farm zurückkam, war fast alles Vieh verendet. Die einzige Überlebende war Achelois, die mich mit vorwurfsvollem Hungerblick betrachtete und klagend muhte. Ich fütterte sie so liebevoll, wie man nur ein Haustier füttern würde, und mehr war sie eigentlich auch nicht. Wie sonst würde man ein Tier bezeichnen, das nicht länger zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann?
    Es hatte eine Zeit gegeben, in der Harlan sich mit Hilfe seiner Frau um meine Farm gekümmert hätte, während ich im Krankenhaus war; bei uns im Mittleren Westen war das unter Nachbarn üblich. Aber sogar als das klagende Muhen meiner verendenden Kühe über die Felder an sein Ohr gedrungen sein musste, wenn er sich zum Abendessen setzte, blieb er weg. Ich an seiner Stelle hätte vielleicht genauso gehandelt. In Harlan Cotteries Augen (und denen der Welt) hatte mein Sohn sich nicht damit begnügt, seine Tochter nur zu ruinieren; er war ihr an den Ort gefolgt, an dem sie Zuflucht hätte finden sollen, hatte sie entführt und zu einem Verbrecherdasein gezwungen. Wie das Gerede von den »Sweetheart Bandits« sich in sein Herz eingefressen haben musste! Wie Säure!

    In der folgenden Woche - ungefähr zu der Zeit, als Farmhäuser und die Main Street in Hemingford Home weihnachtlich geschmückt wurden - kam Sheriff Jones wieder zu mir auf die Farm heraus. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um mir zu zeigen, mit welcher Nachricht er kam, und ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Nicht noch mehr. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Verschwinden Sie!«
    Ich flüchtete ins Haus und hielt die Tür zu, aber ich war einarmig und schwach, und er konnte sich mühelos Zutritt verschaffen. »Reißen Sie sich zusammen, Wilf«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie das durchstehen können.« Als ob er wüsste, wovon er redete.
    Jones sah in den Schrank, auf dem der Zierbierkrug stand, fand meine traurig leere Flasche Whiskey, kippte den letzten Fingerbreit in den Krug und gab ihn mir. »Der Doktor wäre dagegen«, sagte er, »aber er ist nicht hier, und Sie werden ihn brauchen.«
    Die Sweetheart Bandits waren in ihrem letzten Versteck aufgefunden worden: Shannon an der Kugel des Thekenmanns gestorben, Henry an einer, die er sich selbst in den Kopf gejagt hatte. Die Toten waren vorläufig nach Elko ins Leichenhaus gebracht worden. Harlan Cotterie würde seine Tochter heimholen, aber mit meinem Sohn wollte er nichts zu schaffen haben. Natürlich nicht. Ich kümmerte mich selbst darum. Henry traf am 18. Dezember mit dem Zug in Hemingford ein, und ich war mit einer schwarzen Leichenkutsche des Bestattungsunternehmens Castings Brothers am Bahnhof. Ich wurde mehrmals photographiert. Man stellte mir Fragen, die ich nicht einmal zu beantworten versuchte. Die Schlagzeilen des World-Herald und des weit bescheideneren Wochenblatts Hemingford Weekly enthielten die Worte TRAUERNDER VATER.
    Hätten die Reporter mich jedoch in der Leichenhalle gesehen, als der billige Fichtensarg geöffnet wurde, hätten sie
wahre Trauer gesehen und hätten den Ausdruck SCHREIENDER VATER benutzen können. Die Kugel, die mein Sohn sich in die Schläfe geschossen hatte, als er mit Shannons Kopf im Schoß dagesessen hatte, war auf dem Weg durch sein Gehirn aufgeplatzt und hatte ein großes Stück aus der linken Kopfseite herausgerissen. Aber das war nicht das Schlimmste. Seine Augen fehlten. Die Unterlippe war weggefressen, so dass die Zähne zu einem grimmigen Grinsen gebleckt waren. Von der Nase war nur noch ein

Weitere Kostenlose Bücher