Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
roter Stummel übrig. Bevor irgendein Polizist oder Deputy Sheriff die Leichen aufgefunden hatte, hatten die Ratten sich an meinem Sohn und seiner Liebsten gütlich getan.
»Richten Sie ihn her«, wies ich Herbert Castings an, als ich wieder vernünftig reden konnte.
»Mr. James … Sir … die Schäden sind so …«
»Ich sehe, wie schlimm die Schäden sind. Richten Sie ihn her. Und holen Sie ihn aus dieser scheiß Kiste. Legen Sie ihn in den besten Sarg, den Sie haben. Was das kostet, ist mir egal. Ich habe Geld.« Ich beugte mich über ihn und küsste die zerfetzte Wange. Kein Vater sollte seinen Sohn zum letzten Mal küssen müssen, aber wenn irgendein Vater jemals dieses Los verdient hatte, war ich es.
Shannon und Henry wurden beide von der Glory of God Methodist Church in Hemingford aus beigesetzt, Shannon am 22. Dezember und Henry am Heiligabend. Bei Shannon war die Kirche voll, und das Weinen war fast laut genug, um die Mauern zum Beben zu bringen. Das weiß ich, weil ich dort war, zumindest eine Zeit lang. Ich stand unbeachtet ganz hinten und schlich mich nach der Hälfte der Trauerrede von Reverend Thursby hinaus. Rev. Thursby bestattete auch Henry, aber ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Trauergemeinde viel kleiner war. Thursby sah nur mich, aber ich war dennoch nicht der einzige Gottesdienstbesucher. Auch Arlette war da und
saß neben mir, unsichtbar und lächelnd. Und sie flüsterte mir ins Ohr.
Ge fällt es dir, wie alles ausgegangen ist, Wil f? War’s das wert?
Zählte man alles zusammen - Trauergottesdienst, Grabmiete, Bestattungsunternehmen und Heimtransport der Leiche -, kostete die Beisetzung der sterblichen Überreste meines Sohnes etwas über 300 Dollar. Die bezahlte ich von meiner Hypothek. Woher hätte ich das Geld sonst nehmen sollen? Nach der Beerdigung fuhr ich heim in mein leeres Haus. Aber zuvor kaufte ich mir eine neue Flasche Whiskey.
1922 hatte noch eine weitere Überraschung parat. Einen Tag nach Weihnachten kam ein gewaltiger Blizzard aus den Rockies herangeröhrt und überfiel uns mit 30 Zentimeter Schnee und Wind in Sturmstärke. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Schnee erst zu Schneeregen, dann zu peitschendem Regen. Gegen Mitternacht, als ich in dem düsteren Wohnzimmer saß und meinen pochenden Armstumpf mit kleinen Schlucken Whiskey zu beruhigen versuchte, kam von der Rückseite des Hauses ein gewaltiges Knirschen und Krachen. Das war das Dach, das teilweise einstürzte - genau der Teil, für dessen Ausbesserung die aufgenommene Hypothek unter anderem hätte dienen sollen. Ich hob mein Glas zu einem ironischen Toast und nahm noch einen Schluck. Als kalter Wind um meine Schultern zu wehen begann, stand ich auf, holte meinen Mantel von seinem Haken im Vorraum und zog ihn an. Dann setzte ich mich wieder und trank noch etwas Whiskey. Irgendwann döste ich ein. Gegen drei Uhr weckte mich ein weiteres knirschendes Krachen. Diesmal war es die vordere Hälfte des Stalls, die eingestürzt war. Achelois überlebte auch dieses Mal, und am folgenden Tag holte ich sie
zu mir ins Haus. Warum?, könnten Sie mich fragen, und meine Antwort wäre: Warum nicht? Warum zum Teufel nicht? Wir waren die Überlebenden. Wir waren die Überlebenden.
Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags (den ich damit verbrachte, in meinem kalten Wohnzimmer kleine Schlucke Whiskey zu trinken, wobei mir meine überlebende Kuh Gesellschaft leistete) zählte ich das noch übrige Hypothekengeld und erkannte, dass es nicht einmal für eine notdürftige Ausbesserung der Sturmschäden reichen würde. Das störte mich aber nicht besonders, weil ich den Geschmack am Farmerleben verloren hatte, wenngleich der Gedanke, dass die Farrington Company hier einen Schweineschlachthof hinstellen und den Bach verunreinigen würde, mich wieder vor Wut mit den Zähnen knirschen ließ. Vor allem wegen des hohen Preises, den ich dafür gezahlt hatte, dass diese dreimal gottverdammten 40 Hektar nicht in die Hände der Firma gerieten.
Dann wurde mir plötzlich klar, dass dieses Land jetzt mir gehörte, seit Arlette nicht mehr als vermisst galt, sondern offiziell tot war. Also überwand ich zwei Tage später meinen Stolz und stattete Harlan Cotterie einen Besuch ab.
Dem Mann, der auf mein Klopfen die Haustür öffnete, war es weit besser ergangen als mir, aber die Erschütterungen dieses Jahres hatten trotzdem ihren Tribut gefordert. Er hatte abgenommen, er hatte Haare verloren und sein Hemd war verknittert -
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