Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
… würde sie …
»Eine Limousine bestellen«, sagte sie. Diese Idee brach wie ein Sonnenaufgang über sie herein. Ja, genau das würde sie tun. Wenn sie hier in Colewich war, war ihre Heimatstadt in Connecticut nur dreißig Meilen weit entfernt, vielleicht weniger. Der Limo-Service, den sie für Fahrten zum Bradley International Airport oder nach Hartford oder New York benutzte (Tess fuhr in keiner Großstadt selbst Auto, wenn es sich vermeiden ließ), hatte seinen Sitz in der Nachbarstadt Woodfield. Die Firma Royal Limousine warb damit, Tag und Nacht dienstbereit zu sein. Noch besser war, dass ihre Kreditkarteninformationen dort gespeichert sein mussten.
Tess fühlte sich besser und steigerte ihr Tempo ein wenig. Dann erhellten Autoscheinwerfer die Straße, und sie flüchtete wieder in die Büsche, kauerte nieder und kam sich wie ein gejagtes Tier vor: Ricke, Füchsin, Häsin. Dieses Fahrzeug war ein Pick-up, und sie begann zu zittern. Sie zitterte selbst dann weiter, als sie sah, dass der Pick-up ein kleiner weißer Toyota war, viel kleiner als der alte Ford des Riesen. Als er vorbei war, versuchte sie, sich dazu zu zwingen, auf der Straße weiterzugehen, aber das konnte sie zunächst
nicht. Sie weinte wieder und spürte die Tränen warm auf ihrem kalten Gesicht. Sie merkte auch, dass sie bald wieder wegtreten, noch einmal aus dem Lichtkreis klaren Bewusstseins treten würde. Aber das durfte sie nicht zulassen. Wenn sie sich zu oft in diesen Dämmerzustand gleiten ließ, würde sie irgendwann nicht mehr wissen, wie sie nach Hause kommen konnte.
Sie zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie sich bei dem Limo-Fahrer bedankte und auf der Kreditkartenabrechnung ein Trinkgeld hinzufügte, bevor sie zwischen Blumenrabatten langsam zur Haustür ging. Wie sie den Briefkasten hochkippte, um an den Reserveschlüssel dahinter heranzukommen. Wie sie Fritzy ängstlich miauen hörte.
Der Gedanke an Fritzy gab den Ausschlag. Sie kroch aus dem Gebüsch, marschierte weiter die Straße entlang und hielt sich bereit, sofort wieder in Deckung zu flitzen, sobald sie Autoscheinwerfer sah. Augenblicklich. Weil er irgendwo dort draußen war. Ihr wurde bewusst, dass er in Zukunft stets irgendwo dort draußen sein würde. Falls die Polizei ihn nicht schnappte und einsperrte. Aber damit es dazu kommen konnte, musste sie Anzeige erstatten, und sobald ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, glaubte sie, eine marktschreierische Schlagzeile im Stil der New York Post vor sich zu sehen:
»WILLOW GROVE«-AUTORIN NACH LESUNG
VERGEWALTIGT
Klatschblätter wie die Post würden sicher ein Foto bringen, das sie vor zehn Jahren zeigte, als ihr erstes Strickclub -Buch erschienen war. Damals war sie Ende zwanzig gewesen, mit weit über schulterlangen dunkelblonden Haaren und guten Beinen, die sie gern in kurzen Röcken zur Schau stellte.
Und - bei Abendveranstaltungen - in High Heels von der Art, die manche Männer (ziemlich sicher auch der Riese) als Fick-mich-Schuhe bezeichneten. Sie würden nicht erwähnen, dass sie jetzt zehn Jahre älter und fünf Kilo schwerer war und vernünftige - fast unelegante - Geschäftskleidung getragen hatte, als sie überfallen wurde; solche Einzelheiten passten nicht zu den Storys, die die Boulevardpresse gern brachte. Die Berichte würden durchaus respektvoll (wenn auch zwischen den Zeilen etwas hechelnd) sein, aber ihr Foto aus alten Zeiten würde die wahre Geschichte erzählen, die vermutlich älter als die Erfindung des Rades war: Sie hat es gewollt … sie hat es gekriegt.
War das realistisch, oder malten ihre Beschämung und ihr erheblich lädiertes Selbstwertgefühl sich nur den schlimmstmöglichen Fall aus? Jener Teil von ihr, der lieber in den Büschen versteckt bleiben wollte, selbst wenn es ihr gelang, von dieser scheußlichen Straße wegzukommen, diesen scheußlichen Staat Massachusetts hinter sich zu lassen und ihr sicheres Häuschen in Stoke Village zu erreichen? Sie konnte es sich nicht beantworten und vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Eines wusste sie jedoch: Sie würde das landesweite Medienecho bekommen, das sich jede Autorin wünschen würde, wenn ein Buch von ihr erschien, und das sich keine Autorin wünschen konnte, wenn sie vergewaltigt und ausgeraubt und als tot liegen gelassen worden war. Sie konnte förmlich sehen, wie jemand in der Frageperiode die Hand hob und wissen wollte: »Haben Sie ihn irgendwie ermutigt?«
Das war lächerlich, das wusste Tess sogar in ihrem
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