Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
einem spannenden Roman wäre jetzt der Augenblick trügerischer Entspannung vor dem großen Höhepunkt gekommen. Oder in einem Gruselfilm. Die weiße Hand, die in Beim Sterben ist jeder der Erste aus dem See auftauchte. Alan Arkin, der in Warte, bis es dunkel ist über Audrey Hepburn herfiel. Sie mochte keine gruseligen Bücher oder Filme, aber vergewaltigt und fast ermordet zu werden schien einen ganzen Speicher mit lauter ähnlichen Erinnerungen an Gruselfilme geöffnet zu haben. Als wären sie in der Luft schwebend einfach da.
Er konnte draußen lauern. Wenn er beispielsweise einen Komplizen hatte, der seinen Pick-up weggefahren hatte. Er konnte in der geduldigen Art, die Landbewohner an sich hatten, draußen neben dem Durchlass hocken.
»Runter mit der Unterhose«, flüsterte sie, dann bedeckte sie ihren Mund mit der Hand. Wenn er sie gehört hatte?
Fünf Minuten vergingen. Geschätzte fünf. Das Wasser war kalt, und sie begann zu zittern. Bald würde sie anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Wenn er dort draußen war, würde er das hören.
Er ist weggefahren. Du hast ihn gehört.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Und vielleicht brauchte sie die Röhre nicht dort zu verlassen, wo sie hineingekommen war. Wenn sie einen Durchlass bildete, würde sie die Straße unterqueren, und weil fließendes Wasser zu spüren war, würde sie nicht blockiert sein. Sie konnte ganz hindurchkriechen und vom anderen Ende aus den Parkplatz des verlassenen Ladens überblicken.
Sich davon überzeugen, dass der alte Pick-up weg war. Das widerlegte die Idee, er könnte einen Komplizen haben, nicht völlig, aber tief in ihrem Innersten, in das ihr rationaler Verstand sich zurückgezogen hatte, wusste Tess, dass es keinen Komplizen gab. Ein Komplize hätte darauf bestanden, sich mit ihm bei ihr abzuwechseln. Außerdem arbeiteten Riesen allein.
Und wenn er fort ist? Was dann?
Das konnte sie nicht sagen. Sie konnte sich ihr Leben nach dem Nachmittag in dem verlassenen Laden und dem Abend in der Röhre mit einem Polster aus verrottendem Laub unter dem Kreuz nicht vorstellen. Aber vielleicht war das auch nicht nötig. Vielleicht konnte sie sich darauf konzentrieren, zu Fritzy heimzukommen und ihn mit einer Packung Fancy Feast zu füttern. Sie konnte die Fancy-Feast-Schachtel ganz deutlich sehen. Sie stand in einem Regal in ihrer friedlichen Speisekammer.
Sie wälzte sich auf den Bauch und stützte sich auf die Ellbogen, um durch die Röhre weiterzukriechen. Dann sah sie, wer sich den Durchlass mit ihr teilte. Eine der Leichen war kaum mehr als ein Skelett (mit wie bittend ausgestreckten knochigen Händen), aber es hatte noch genügend Haare auf dem Kopf - auf ihrem Kopf -, dass Tess sich ziemlich sicher war, dass es eine Frauenleiche war. Die andere hätte eine grausig entstellte Schaufensterpuppe sein können, wären die hervorquellenden Augen und die heraushängende Zunge nicht gewesen. Diese Leiche war frischer, aber von Tieren angefressen, und Tess konnte selbst im Dunkel die zu einem Grinsen gebleckten Zähne der Toten erkennen.
Aus dem Haar der Schaufensterpuppe kam ein Käfer gekrabbelt und kroch über den Nasensattel hinunter.
Heiser schreiend, schob Tess sich rückwärts aus der Röhre und sprang auf - mit von der Taille aufwärts klatschnass
an ihr klebender Kleidung, von der Taille abwärts nackt. Und obwohl sie nicht ohnmächtig wurde (zumindest glaubte sie das nicht), blieb ihr Bewusstsein für gewisse Zeit seltsam bruchstückhaft. Im Nachhinein erschien ihr die folgende Stunde wie eine abgedunkelte Bühne, die gelegentlich von Punktscheinwerfern erhellt wurde. Ab und zu trat eine misshandelte Frau mit gebrochener Nase und Blut an den Oberschenkeln in einen der Lichtkreise, um dann wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.
9
Sie war in dem Laden, in dem großen zentralen Verkaufsraum, der früher in Gänge aufgeteilt gewesen war, mit einer Tiefkühltruhe (vielleicht) im rückwärtigen Teil und einer Bierkühltheke (bestimmt) entlang der Rückwand. Sie nahm den Geruch von altem Kaffee und Essiggurken wahr. Sie angelte ihre Gabardinehose unter der Ladentheke hervor. Darunter lagen ihre Schuhe und ihr Handy - zertrümmert. Ihr Haargummi war weg. Sie erinnerte sich (vage, so wie man sich an bestimmte Dinge aus frühester Kindheit erinnert), dass an diesem Vormittag irgendeine Frau gefragt hatte, wo sie ihn gekauft habe, und dass ihre Antwort »bei JCPenney« unerklärlichen Beifall ausgelöst hatte. Sie dachte daran, wie
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