Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
»B-B-B-Baby, you just ain’t seen n-n-nuthin yet«. Sie beobachtete, wie die Heckleuchten schlagartig verschwanden. Sie merkte, dass sie kurz davor war, wieder wegzutreten, und schlug sich mit beiden Händen ins Gesicht.
»Nein!«, knurrte sie. »Nein!«
Sie kam wieder ein Stück weit zu Sinnen. Der Drang, in den Büschen versteckt zu bleiben, war stark, aber dort konnte sie nicht bleiben. Nicht nur war es noch lange bis
Tagesanbruch, wahrscheinlich war es weit vor Mitternacht. Der Mond stand noch tief am Himmel. Sie konnte nicht hier bleiben, und sie durfte nicht ständig wieder … wegtreten. Sie musste nachdenken.
Tess hob den Teppichrest aus dem Straßengraben auf, um ihn sich wieder um die Schultern zu legen, berührte dann ihre Ohren und wusste bereits, was sie finden würde. Die tropfenförmigen Brillantohrringe, eine ihrer wenigen wirklichen Extravaganzen, waren weg. Sie brach erneut in Tränen aus, aber dieser Weinkrampf war kürzer, und als er vorbei war, fühlte sie sich mehr wie sie selbst. Mehr in sich selbst, eine Bewohnerin ihres Kopfs und Körpers, statt sich nur wie ein Gespenst zu umschweben.
Nachdenken, Tessa Jean!
Also gut, sie würde es versuchen. Aber sie würde es im Gehen tun. Und kein Gesang mehr. Der Klang ihrer veränderten Stimme war unheimlich. Als ob der Riese durch seine Vergewaltigung eine neue Frau erschaffen hätte. Sie wollte keine neue Frau sein. Die alte hatte ihr gefallen.
Gehen. Bei Mondschein gehen, während ihr Schatten neben ihr über die Straße glitt. Welche Straße? Stagg Road. Laut Tom war sie etwas weniger als vier Meilen von der Kreuzung mit der US 47 entfernt gewesen, als sie in die Falle des Riesen geraten war. Das war nicht so schlimm; um in Form zu bleiben, lief sie jeden Tag mindestens drei Meilen oder benutzte bei Schnee oder Regen ihren Hometrainer. Natürlich war dies ihr erster Marsch als die Neue Tess, die mit der schmerzenden, blutenden Möse und der rauchigen Stimme. Aber es gab eine positive Seite: Ihr wurde allmählich warm, die obere Hälfte ihrer Kleidung trocknete, und sie trug flache Schuhe. Beinahe hätte sie dreiviertelhohe Pumps getragen, die diesen Abendspaziergang wirklich sehr unangenehm gemacht hätten. Nicht dass er unter anderen Umständen angenehm gewesen wäre, nein nein n…
Nachdenken!
Aber bevor sie das konnte, wurde die Straße vor ihr hell. Tess flitzte wieder in die Büsche und schaffte es diesmal, den Teppichrest nicht zu verlieren. Ein weiteres Auto, Gott sei Dank nicht sein Pick-up, aber sie wurde nicht langsamer.
Er könnte es trotzdem sein. Vielleicht ist er in ein Auto umgestiegen. Er kann zu seinem Haus, seinem Schlup fwinkel zurückgefahren und in ein Auto umgestiegen sein. Weil er denkt: »Sie wird sehen, dass es kein Pick-up ist, und aus ihrem Versteck kommen. Sie wird mich anhalten, und dann hab ich sie.«
Ja, ja. Genau das würde in einem Horrorfilm passieren, oder? Kreischende Opfer 4 oder Stagg Road Horror 2 oder …
Sie drohte abermals wegzutreten, also schlug sie sich wieder ins Gesicht. Sobald sie zu Hause war, sobald Fritzy gefüttert war und sie in ihrem Bett lag (alle Türen abgesperrt, alle Lampen eingeschaltet), konnte sie so viel wegtreten, wie sie wollte. Aber nicht jetzt. Nein nein nein. Jetzt musste sie weitergehen und sich verstecken, wenn Autos kamen. Wenn sie das schaffte, würde sie irgendwann die U S 47 erreichen, an der es einen Laden geben konnte. Einen mit einem Kartentelefon, wenn sie Glück hatte … und sie hatte etwas Glück verdient. Ihre Handtasche war weg, die lag noch in dem Expedition (wo auch immer der sein mochte), aber sie wusste die Nummer ihrer Telefonkarte von AT&T auswendig: ihre eigene Telefonnummer, dann 9712. Kinderleicht.
Am Straßenrand stand ein Schild. Tess konnte es im Mondschein mühelos lesen:
SIE HABEN COLEWICH ERREICHT
WILLKOMMEN, FREUND!
»Du magst Colewich, es mag dich«, flüsterte sie.
Tess kannte diese Gemeinde, deren Name von den Einheimischen »Collitch« ausgesprochen wurde. Es war in Wirklichkeit eine Kleinstadt, eine der vielen in Neuengland, die wohlhabend gewesen waren, solange die Textilindustrie floriert hatte, und sich in der neuen Freihandelsära, in der Amerikas Hosen und Jacken in Asien oder Mittelamerika genäht wurden - vermutlich von Kindern, die weder lesen noch schreiben konnten -, irgendwie durchwurstelten. Sie befand sich in den Außenbezirken, aber sie konnte bestimmt bis zu einem Telefon weitergehen.
Was dann?
Dann würde sie
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