Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
gegenwärtigen Zustand … aber sie wusste auch, wenn das herauskam, würde jemand die Hand heben, um zu fragen: »Werden Sie über diese Sache schreiben?«
Und was würde sie antworten? Was konnte sie antworten?
Nichts, dachte Tess. Ich würde mit zugehaltenen Ohren vom Podium flüchten.
Aber nein.
Nein nein nein.
In Wirklichkeit würde sie überhaupt nicht erst dort sein. Wie konnte sie jemals wieder in eine weitere Lesung, einen Vortrag oder eine Autogrammstunde einwilligen, wenn sie wusste, dass er aufkreuzen, sie aus der letzten Reihe angrinsen könnte? Unter dieser komischen braunen Mütze mit dem Bleichmittelflecken hervor grinsend? Vielleicht mit ihren Ohrringen in der Tasche. Während er mit ihnen spielte.
Bei dem Gedanken an ihre Aussage bei der Polizei wurde ihr ganz heiß, und sie konnte spüren, wie ihr Gesicht sich vor Scham buchstäblich verzerrte, selbst allein hier draußen in der Dunkelheit. Auch wenn sie vielleicht nicht Sue Grafton oder Janet Evanovich war, war sie doch streng genommen keine Privatperson. Sogar CNN würde ein, zwei Tage über sie berichten. Die Welt würde erfahren, dass ein verrückter, grinsender Riese sich in die Willow-Grove-Autorin ergossen hatte. Sogar die Tatsache, dass er ihren Slip als Souvenir behalten hatte, konnte herauskommen. CNN würde dieses Detail nicht melden, aber der National Enquirer oder Inside View würden solche Bedenken nicht haben.
Mit den Ermittlungen vertraute Personen behaupten, dass bei dem mutmaßlichen Vergewaltiger ein Slip der Autorin gefunden wurde: ein mit Spitze besetzter blauer Hü ftslip von Victoria’s Secret.
»Ich kann es nicht erzählen«, sagte sie. »Ich werde es nicht erzählen.«
Aber es hat andere vor dir gegeben, es könnte weitere nach dir …
Sie verdrängte diesen Gedanken energisch. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wozu sie moralisch verpflichtet
sein könnte oder nicht. Diesen Teil würde sie später klären, wenn Gott ihr ein Später gewähren wollte … und das schien der Fall zu sein. Aber nicht auf dieser verlassenen Straße, auf der hinter jedem näher kommenden Scheinwerferpaar ihr Vergewaltiger sitzen konnte.
Ihrer. Er gehörte jetzt ihr.
13
Ungefähr eine Meile nach dem Ortsschild von Colewich hörte sie auf einmal ein tiefes, rhythmisches Pochen, das aus der Straße, auf der sie lief, zu kommen schien. Zuerst dachte sie an die Morlocks, H. G. Wells’ Mutanten, die tief im Erdinneren ihre Maschinen bedienten, aber nach weiteren fünf Minuten klärte sich die Ursache des Lärms auf. Er kam durch die Luft, nicht aus der Erde, und war ein Klang, den sie kannte: der Herzschlag einer Bassgitarre. Der Rest der Band materialisierte sich darum herum, während sie weiterging. Bald konnte sie am Horizont Licht sehen: keine Autoscheinwerfer, sondern das Weiß von Bogenlampen und das rote Leuchten von Neonröhren. Die Band spielte »Mustang Sally«, und Tess konnte Gelächter hören. Es war betrunken und wunderbar, mit fröhlichen Saufgelagejuchzern durchsetzt. Bei diesen Lauten hätte sie am liebsten wieder geweint.
Das Rasthaus, ein großer alter Partyschuppen mit einem riesigen unbefestigten Parkplatz, der gesteckt voll zu sein schien, nannte sich The Stagger Inn. Sie blieb stirnrunzelnd am Rand der Lichtflut der Parkplatzbeleuchtung stehen. Weshalb so viele Autos? Dann fiel ihr ein, dass heute Freitag war. An Freitagabenden war das Stagger Inn offenbar der angesagte Club, wenn man aus Colewich oder einer
der umliegenden Gemeinden stammte. Dort würde es ein Telefon geben, aber auch zu viele Leute. Sie würden ihr geschwollenes Gesicht und ihre schiefe Nase sehen. Sie würden wissen wollen, was ihr zugestoßen war, und sie war nicht fähig, sich eine Story auszudenken. Nicht jetzt schon. Auch ein Kartentelefon im Freien hätte nichts genutzt, denn sie konnte auch draußen Leute sehen. Viele Leute. Heutzutage musste man rausgehen, wenn man eine Zigarette rauchen wollte. Außerdem …
Er konnte dort sein. War er nicht zwischendurch um sie herumgetanzt und hatte mit seiner schrecklich tonlosen Stimme einen Song der Rolling Stones gesungen? Vielleicht hatte sie diesen Teil nur geträumt - oder als Halluzination wahrgenommen -, aber das glaubte sie nicht. War es nicht denkbar, dass er geradewegs ins Stagger Inn gefahren war, nachdem er den Geländewagen versteckt hatte, alle Röhren frisch durchgespült und bereit, die Nacht durchzufeiern? Sie traute sich zu, seinen Pick-up zu erkennen, wenn sie ihn sah,
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