Zwischen Olivenhainen (German Edition)
auch Anne musterte sie neugierig.
„Dein Vater hat es mal nebenbei erwähnt“, murmelte Leslie.
„Als er unter vier Augen mit dir sprechen wollte?“, fragte Melissa. Dankbar über diese Möglichkeit, wenigstens die halbe Wahrheit zu sagen, nickte Leslie. Und merkte sofort, dass Anne ihr nicht eine Sekunde glaubte. Aber best-friends-like wechselte sie das Thema.
„Rom – cool! Habt ihr den Papst getroffen oder so was?“
Melissa lachte. „Nein, den trifft man nicht einfach so, glaub mir. Außerdem haben wir in einem Vorort von Rom gewohnt, Dad hat aber in der Innenstadt gearbeitet.“
„Ach so. Schade“, sagte Anne und kramte in ihrer Schultasche nach einem Müsliriegel. „Auch einen?“, fragte sie mit vollem Mund und hielt Leslie und Melissa einen entgegen.
Melissa griff dankbar zu, sie schien immer am Verhungern zu sein, und Leslie behauptete, sie wäre allergisch gegen Erdnüsse, aber Anne hob nur eine Braue und musterte sie mit ihrem Scanner-Blick aus eisblauen Augen – und sie nahm den Riegel doch. Er schmeckte widerlich. Sie hasste Erdnüsse.
Zufrieden wandte Anne sich wieder an Melissa. „Wenn du glaubst, dass dein Vater irgendwelche Geheimnisse vor dir und deiner Mutter hat – warum fragst du ihn dann nicht einfach danach?“
Melissa lachte trocken auf. „Ihn danach fragen!“, stieß sie verächtlich hervor. „Na klar! Weil er mir auch sofort Rede und Antwort stehen und nicht nach Sizilien fahren würde. Glaub mir, Anne, ich habe es schon oft versucht, aber wie gesagt: Ich stelle keine Fragen mehr. Bringt sowieso nichts. Ich versuche einfach, genau wie Mom, alles zu akzeptieren, damit kommen wir alle ganz gut klar. Dad sagt zwar immer, dass sein Beruf nichts mit seinem Privatleben zu tun haben sollte, aber das lässt sich scheinbar nicht immer vermeiden.“
„Und wenn ich ihn danach frage …?“, sagte Anne kauend. Melissa lachte nur.
„Nein, ich mein‘s ernst“, behauptete Anne. „Ich könnte für dich auf Schnupperkurs gehen.“ Melissa hörte auf zu lachen.
„Äh … definiere ‚Schnupperkurs‘ “, sagte sie irritiert, scheinbar aber nicht ganz abgeneigt.
„Naja, ich könnte sein Büro durchsuchen oder …“
Leslie hörte nicht mehr zu. Sie ließ den Rest ihres Müsliriegels in ihrer Tasche verschwinden und richtete den Blick wieder auf die Häuser, die hinter dem Fenster an ihnen vorbeizogen. Sollte Anne doch auf Schnupperkurs gehen. Ihr sollte es recht sein. Aber ganz tief in ihren Gedanken merkte sie, dass sie eigentlich gar nicht wissen wollte, was Melissas Vater wirklich tat. Weil sie nicht wollte, dass es irgendetwas mit den Ruggieros zu tun hatte.
Als Leslie am Nachmittag nach Hause kam, ging sie gleich nach oben in ihr Zimmer, ohne Benny Bescheid zu sagen, dass sie da war, und dann legte sie die Robbie Williams CD, die sie von Grandpa und ihrem Bruder bekommen hatte, Annes Umschlag mit den vielen Fotos, ihr „ Bella Italia “-T-Shirt aus Sizilien und Raffaellos Brief auf ihr Bett. Nach kurzem Zögern öffnete sie auch den Verschluss ihrer Kette und ließ sie zu den anderen Erinnerungen an ihn auf ihr Bett fallen, dann packte sie alles zusammen in ihrem schwarzen Koffer, den sie offensichtlich nicht mehr so bald brauchen würde, und verfrachtete ihn in die kleine Abstellkammer unter der Treppe im Erdgeschoss vor Grandpas Wohnung. Zufrieden atmete sie auf – und mit einem Mal fühlte sie sich irgendwie befreit.
Am Abend versuchte sie, sich Raffaellos Gesicht vorzustellen, was ihr nur allzu gut gelang. Verdammt. Vermutlich würde sie es mit der Zeit mehr und mehr vergessen, dachte sie hoffnungsvoll. Dass das nicht funktionieren sollte, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Am Montag nach dem Wochenende bekam Leslie von Anne eine umfangreiche Beschreibung von Mr. Gosettis Büro. („Der Mann arbeitet mit Staatsanwälten aus Italien zusammen, wenn das mal nicht komisch ist! In seiner Jackentasche war irgendwas Hartes. Hat sich angefühlt wie … ach, keine Ahnung, aber bevor Meli und ich es rausholen konnten, hat Gosetti uns erwischt. Der Kerl ist ziemlich wütend
geworden – meinst du, das könnte ’ne Knarre gewesen sein?!“)
„Weißt du“, schloss Anne ihren Bericht, „ich glaube nicht, dass Gosetti auch nur im Entferntesten was mit Versicherungen zu tun hat. Der Herr ist ein Rätsel – genau wie dein Romeo!“ Und erneut sah sich Leslie gezwungen, an Raffaello zu denken. Scheiße.
An den darauf folgenden Tagen half Leslie
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