Zwischen uns die Zeit (German Edition)
gewesen– zum Beispiel an die Sonntage, an denen ich meinem Großvater früher half, das Sortiment zu ordnen, oder an den Tag, an dem mein Vater mir einen eigenen Schlüssel gab und mir erlaubte, den Laden abends abzuschließen. Der Mann wurde zwar geschnappt, bevor er unsere Einnahmen rauben konnte, und darüber bin ich nach wie vor mehr als erleichtert, aber etwas hat er mir dennoch gestohlen– das Gefühl der Geborgenheit beim Klang der Glöckchen.
» Hallo, Annie.« Dad beugt sich hinter der Theke über den Taschenrechner, tippt Zahlenkolonnen ein und legt Quittungen auf einen Stapel.
» Hi, Dad!« Wir küssen uns zur Begrüßung auf die Wange, dann macht er mit der Abrechnung weiter. Keiner von uns erwähnt, dass sich die Atmosphäre im Laden verändert hat, aber ich weiß, dass er es genauso empfindet wie ich.
» Ich fahre gleich bei der Bank vorbei und zahle die Wocheneinnahmen ein«, sagt er, ohne mich anzusehen. » Von jetzt an kümmere ich mich immer darum. Ich möchte nicht, dass du mit so viel Geld durch die Gegend läufst.« Obwohl ich den Gang zur Bank immer gern übernommen habe, widerspreche ich nicht, sondern sehe schweigend zu, wie mein Vater die Quittungen zusammenheftet, den Umsatz aus der Kasse nimmt und ihn in das Mäppchen legt. » Am Wochenende wird außerdem endlich eine Alarmanlage eingebaut. So ein ganz modernes Ding mit Fernbedienung, über die du von jeder Stelle des Ladens aus per Knopfdruck sofort die Polizei alarmieren kannst.«
» Was echt nützlich ist, wenn die Fernbedienung nicht gerade irgendwo anders liegt.«
» Wir werden wohl nicht darum herum kommen, sie immer bei uns zu tragen.« Er zuckt bedauernd die Achseln. » Ziemlich lästig, was?«
» Nein, gar nicht. Wir können uns ja so schicke Lederhalfter zulegen.« Ich zücke blitzschnell eine imaginäre Fernbedienung und richte sie auf ihn wie eine Pistole. Er macht es mir nach und wir fangen beide an zu prusten. Das Ganze mit ein bisschen Galgenhumor zu nehmen, scheint uns beiden gutzutun.
» Weißt du, ich habe mir überlegt…«
» Oh-oh«, sage ich und ziehe skeptisch die Brauen hoch. Wenn Dad so anfängt, kommt meistens nichts Gutes für mich dabei heraus.
» Ich dachte, dass ich vielleicht einen Studenten von der Northwestern einstellen könnte, der mir im Laden hilft. Du musst für die Meisterschaften trainieren und dann stehen bei euch in der Schule ja auch bald die Jahresprüfungen an.«
» Erst in einem Monat.«
» Ehe du dich versiehst, musst du dich um die Uni-Bewerbungen kümmern…«
» In einem halben Jahr.«
» Und da du außerdem seit Kurzem einen Freund hast…«
» Ich habe keinen Freund.«
» …hast du bestimmt etwas Besseres zu tun«, ignoriert er meinen Einwurf, » als jeden zweiten Abend hier im Laden herumzustehen. Das wäre der perfekte Job für einen Studenten, meinst du nicht?«
» Nein, wäre es nicht, weil es nämlich schon der perfekte Job für mich ist. Ich finde es echt nett, Dad, dass du dir Gedanken darüber machst, ob mir das zu viel wird, aber ich arbeite wirklich gerne hier.« Und außerdem kann ich das Geld sehr gut für meine Reisekasse gebrauchen. Aber das sage ich natürlich nicht laut.
Er umarmt mich. » Bist du dir ganz sicher, Schatz?«
» Absolut«, murmle ich in die etwas kratzige Wolle seines Pullis hinein.
» In Ordnung.« Dad drückt mich noch einmal an sich, bevor er seine Jacke anzieht und nach dem Mäppchen mit dem Geld greift. » Dann bis später.«
Ein paar Minuten später ertönt wieder das Klingeln der Glöckchen und ich blicke auf. Es ist Bennett. » Hey«, sage ich überrascht.
» Hi, Anna.« Er kommt an den Kassentresen und wir sehen uns einen Moment verlegen lächelnd an.
» Oh, äh, ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig für die Postkarte bedankt«, stammle ich. » Das war wirklich wahnsinnig süß von dir.«
» Freut mich, dass du dich so darüber freust.«
Ich bin fast dankbar dafür, dass ausnahmsweise nicht ich diejenige bin, die rot anläuft, sondern er.
» Ich habe mir selbst auch eine gekauft, um eine Erinnerung an den Tag zu haben, aber eigentlich bin ich hier, um mir einen Reiseführer zu holen. Über Mexiko. Für den Wettbewerb in Spanisch.«
» Ach so, ja klar. Komm mit.« Er folgt mir in die Abteilung mit den Reiseführern, wo ich ein paar aus dem Regal ziehe. Wir setzen uns damit auf den Boden, und ich nehme das erste Buch vom Stapel und halte es hoch. » Das hier ist zwar ziemlich informativ, enthält aber leider
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