Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Enkelin, die einen Säugling im Arm hält. Einen kleinen Jungen, der Bennett heißt. » Ich glaube es einfach nicht.« Bennett sieht mich immer noch nicht an. » Das Foto auf dem Kaminsims.« Mir ist nicht bewusst, dass ich es laut gesagt habe, aber jetzt sieht er auf und nickt. » Maggie ist tatsächlich deine Großmutter.«
Er nickt wieder.
» Und der reale Bennett ist ein…«, ich bringe das Wort kaum über die Lippen, » Säugling, der in San Francisco lebt.« Deswegen also stehen bei Maggie keine Bilder herum, die Bennett als älteren Jungen zeigen.
» Ich bin auch real.« Er greift nach meiner Hand und legt sie auf seinen Arm, als wolle er mir durch die Berührung beweisen, dass er tatsächlich existiert. » Aber es stimmt, dass ich erst im Jahr 2012 siebzehn werde. 1995 bin ich es theoretisch… noch nicht.«
Ich stelle mir einen anderen Zeitstrahl vor. Einen, der im Jahr 1995 beginnt und im Jahr 2012 endet.
» Und was ist mit dem… anderen Bennett? Dem auf Maggies Foto?« Ich ziehe meine Hand wieder zurück.
» Der ist in San Francisco. Wahrscheinlich liege ich jetzt gerade glucksend in meinem Babybettchen und starre auf ein Mobile über mir… oder so etwas in der Art.«
Die Vorstellung, dass Bennett in Wirklichkeit ein Säugling ist, lässt mich einerseits schaudern, ist andererseits aber so absurd, dass ich es mit dem Verstand kaum erfassen kann und es mir nur mit Mühe gelingt, das hysterische Lachen zu unterdrücken, das mir die Kehle hochsteigt.
» Ich kann gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein, nur nicht zur selben Zeit am selben Ort«, erklärt Bennett, der meine Fassungslosigkeit offensichtlich spürt– jedenfalls wirft er mir einen besorgten Blick zu.
» Was geschieht denn, wenn du es bist? Zur selben Zeit am selben Ort, meine ich?«
» Ich achte darauf, dass das möglichst nie passiert. Aber wenn es sich aus irgendeinem Grund nicht verhindern lässt, verschwindet mein jüngeres Ich und das ältere nimmt seinen Platz ein. So habe ich es bei dem Neustart gemacht, als der Typ mit dem Messer dich bedroht hat, sonst hätte das Ganze nicht funktioniert.«
Weil ich es nicht schaffe, ihm in die Augen zu sehen, schlage ich eines der Bücher vor mir auf und blättere darin herum. » Du hast mich angelogen. Deine Großmutter hat gar kein Alzheimer.«
» Doch, aber 1995 hat man es ihr noch nicht angemerkt.«
» Und wieso hält sie dich für einen Studenten der Northwestern University?« Jetzt zwinge ich mich doch, ihn wieder anzusehen.
» Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass ich noch auf die Highschool gehe, als ich das Zimmer gemietet habe, weil sie sonst garantiert darauf bestanden hätte, mit meinen Eltern zu sprechen.«
Er greift erneut nach meiner Hand, doch ich ziehe sie hastig weg und spiele mit den Fransen des Perserteppichs, auf dem wir sitzen, während ich das alles irgendwie zu begreifen versuche.
Bennett kann über das Jahr 1995 hinaus in die Zukunft reisen, weil es seine Zukunft ist.
Er wohnt bei einer Frau, die keine Ahnung hat, dass er ihr Enkel ist.
Eigentlich dürfte er gar nicht hier sein.
» Meine Gegenwart ist deine Vergangenheit«, sage ich schließlich leise.
Er nickt.
» Was war die längste Zeit, die du jemals irgendwo geblieben bist… in der Vergangenheit, meine ich?« Ich senke den Kopf, weil ich es nicht ertrage, ihn anzusehen.
» Sechsunddreißig Tage«, flüstert er.
» Und wann war das?«
Er atmet tief ein. » Morgen ist der siebenunddreißigste Tag.«
So wundervoll ich seine Fähigkeit bis gerade eben noch fand, jetzt verwirrt sie mich und macht mir doch Angst. Dabei weiß ich noch längst nicht alles. Zum Beispiel, wer die Person ist, von der er im Park gesagt hat, er müsse sie finden, was er überhaupt hier in Evanston macht oder warum er ursprünglich nur einen Monat bleiben wollte, jetzt aber schon viel länger hier ist. Irgendwann hebe ich den Kopf und sehe ihn wieder an.
In seiner Zeitrechnung bin ich sechzehn Jahre älter als er, in meiner ist er dagegen ein Jahr älter als ich. Oder ist es umgekehrt?
Bennett beugt sich zu mir vor und sieht mich eindringlich an. » Ich weiß, wie verwirrend das alles für dich sein muss, Anna, und ich…« Er streicht sich seufzend die Haare hinter die Ohren– dafür sind sie immer noch lang genug. » Die Sache ist die: Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein, verstehst du? Nicht in Evanston und auch nicht im Jahr 1995. Ich dürfte dich nicht kennengelernt haben, Emma auch nicht und erst recht
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