Zwischenfall in Lohwinckel
Erwartung von etwas ganz und gar Ungewöhnlichem. Frau Profet beispielsweise, die den Boxer Franz Albert in Quartier bekommen hatte, sah von morgens an unbekannte Leute auf ihrer Gartenmauer sitzen, so oft sie hinausschaute. Obwohl Franz Albert keine andre Verletzung hatte als eine blaue gequetschte Stelle neben der Nase – und keineswegs war dies die erste derartige Blessur in seinem Leben – und obwohl er mit erholten Nerven und tapfer essend an ihrem Frühstückstisch saß, trug Frau Profet noch immer die weiße Schwesternschürze und umschwebte beflügelt und in allen Adern pulsierend ihren Verwundeten.
Leore Lania war von Herrn von Raitzold erobert und wie eine Trophäe auf das Gut hinausgeschleppt worden. Er tat es eigentlich nur aus Trotz gegen Herrn Profet, und es hatte zuvor einen grotesken Streit um die Verwundeten gegeben, der nachts in Doktor Persentheins kleiner Diele ausgefochten wurde, während der Doktor im Ordinationszimmer die gespaltene Oberlippe der Schauspielerin vernähte.
Übrigens war diese geringfügige, aber überaus heikle Operation eine merkwürdige Sache gewesen. Als nämlich Frau Doktor Persenthein das Gesicht dieser Leore Lania abgewaschen hatte und es in seiner ganzen Blässe und mit dem süß-herben Reiz seiner Modellierungen sich dem Arzt präsentierte, war er in einen Abgrund von Angst und Unsicherheit verfallen. Die Lania schien sich nicht zu fürchten, sie klagte nicht, sie zuckte nicht, sie sagte nichts. Sie hatte nur mit ihrer tiefen, brüchigen Kinderstimme – Rehle sprach ganz ähnlich, fand Frau Persenthein – und gehindert durch die klaffende Lippenwunde kundgetan, daß es ihr sympathischer wäre, mit Tod abzugehen als verschandelt herumzulaufen; und dann hatte sie sich hingelegt und die schmerzenden ersten Einstiche des Novokains mit Ruhe empfangen, obwohl der Doktor die Spritze in diesem Augenblick nicht allzu geschickt handhabte.
Er hatte den Ernst hinter dem hingemurmelten Satz gespürt, und auch Frau Persenthein, die hinten am Sterilisator stand, begriff blitzhaft, daß für die Schauspielerin mit der Schönheit ihres Gesichts alles auf dem Spiel stand. Elisabeth schaute mit erregten und überwachen Augen zu ihrem Mann hinüber, der abwartete, bis die Wunde von der steifen Kälte und Unempfindlichkeit der örtlichen Betäubung erfüllt war. Er hatte das Gesicht der Lania mit weißen Tüchern bedeckt, nur das Operationsfeld freilassend nachdem er noch einen beängstigten Blick auf die indisch feine Rundung und geschliffene Zartheit dieser Züge geworfen hatte. Er wollte es besonders gut machen und befahl die feinsten Nadeln, nicht mehr bedenkend, daß die Lippenhaut von besonderer Härte und Zähigkeit ist. Nachher klappte es nicht, man mußte andere Nadeln auskochen. Man mußte neue Spritzen geben, um die Wirkung zu verlängern, und Frau Persenthein, die Nadeln einfädelte und mit den Tupfern hantierte und Klemmen bereithielt, zitterte so heftig, daß die Lania unter ihren Tüchern es bemerkte.
›Wie müßte ich erst zittern‹, dachte sie spöttisch dabei, tat es aber nicht. Es war so unsinnig tragikomisch, daß man nun dalag und einem aufgeregten Dorfbader ausgeliefert war, der nicht zu wissen schien, was er anfing. Als es vorbei war und sie sich verbunden und verpflastert vom Operationsstuhl erhob, hatte sie nur einen abgründigen Haß auf alles hier. Auf die Doktorsfrau mit ihrem hausbackenen Gesicht, auf den ausgekochten Seifengeruch des Arztkittels, der ihr so nahe kam, auf jedes Wort und jedes Geräusch und jede Bewegung, die an ihre zerreißend angespannten Nerven schlugen. Als Frau Persenthein sie einlud, in ihrem eigenen Bett zu schlafen, schüttelte sie so heftig den Kopf, daß es einer Beleidigung gleichkam.
Frau Persenthein zog ihre Einladung denn auch sogleich betrübt und eingeschüchtert zurück und übergab die Schauspielerin dem Fräulein Hyazinthia von Raitzold, das gestiefelt mit dem Rad vom Gut hereingekommen war und neben Herrn von Raitzold in der Diele wartete. Und Leore Lania überließ sich in einem merkwürdigen Anfall von Vertrauen den großen Händen, der tiefen Stimme und dem männlichen Geruch nach Leder, Tabak und Ackererde, den das Fräulein ausströmte.
So kam es, daß Peter Karbon, der mit seiner ausgerenkten Schulter wieder als Letzter in die Behandlung des Doktors kam, schließlich im Angermannshaus zurückblieb und gegen ein Uhr nachts, mit eingerenkten Gliedmaßen zwar, aber von einem Schüttelfrost der Überspannung
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