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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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Patienten zum Wagen schaffte. Die in der zweiten Reihe standen, gingen auf die Zehenspitzen. Schließlich passierte nicht alle Jahre ein Unglück auf der Düßwalder Chaussee. Der Schofför Müller, der aus Fabrikarbeitern eine kleine Kolonne zur Aufrichtung des gestürzten Wagens gebildet hatte, kam schnell heran. Herr Profet, des Stehens im Regen überdrüssig, innerlich mit Persenthein hadernd und beleidigt, weil die Dame in Raitzolds alter Kalesche davongefahren war, hatte sich schon ins Auto gesetzt. Drinnen war es unheimlich, zu still die Luft, zu sehr erfüllt von Atemzügen. Der Boxer auf seinem Vordersitz war vornübergesunken und verschlief seine Dosis Eukodal. Fobianke, mit aufgeschlagenen Augen und stumm auf dem Rücksitz liegend, zog zitternde Luftstöße zwischen seine Lippen, die weiß unter dem Schnurrbart hervorsahen, so leergeblutet waren sie.
    »Sie, Herr Profet, müssen vorne sitzen, bei Müller«, ordnete der Doktor an. Herr Profet kroch angesichts der Leute von Lohwinckel und Obanger wieder aus dem Wagen heraus. Er gab anstandshalber seinem Schofför ein paar Anordnungen und bestimmte einige seiner Arbeiter dazu, das verunglückte Auto mit einem Wagen nach der Fabrik abzuschleppen. Der Kreis der Radfahrer öffnete sich stumm, als Müller den Wagen mit äußerster Vorsicht in Bewegung setzte.
    »Zwei Tote haben sie schon drinnen«, sagte ein Mann in einer Windjacke.
    »Die andern gehen auch noch drauf«, antwortete ein anderer, der Geselle von Schlächter Seyfried.
    Persenthein hatte Peter Karbon neben dem duselnden Boxer untergebracht und sich selber zu Fobianke gesetzt, dessen immer schwächer werdenden Puls er in der Hand behielt. »Was ist mit Ihnen los, Fobianke?« fragte Karbon, der sich nicht umdrehen konnte, ohne schwindlig zu werden, vor sich hin. Er hörte, wie der Schofför leise antwortete: »Mir – fehlt – nichts – Herr Karbon –«, und dann fiel ihm wieder die Lania ein. Merkwürdigerweise dachte er ganz fremd an sie, nicht an Pittjewitt, sondern an eine Frau, die auf Plakaten zu sehen war und deren riesenhaft vergrößertes und grob hingemaltes Bild abends über Berliner Kinoeingängen Reklame schrie.
    »Zerschnitten?« sagte er. »Aber es ist Millionen wert –«
    »Was denn?« fragte der Doktor.
    »Ihr Gesicht. Millionen. Das ist nicht so einfach zu flicken –«
    Persenthein spürte das Mißtrauen in diesem sonst unverständlichen und fieberhaft erscheinenden Satz. Plötzlich sackte eine riesenhafte Müdigkeit über ihm zusammen wie ein dunkles Tuch. Grade noch hatte er ein triumphales Gefühl von Klarheit und richtigem Funktionieren gehabt, plötzlich bekam er Angst. Vielleicht war alles falsch, was er getan hatte. Vielleicht hätte er den Schofför zu allererst und auf schnellstem Weg nach Schaffenburg bringen lassen müssen? Vorausgesetzt, daß seine Annahme einer Leberruptur richtig war, dann konnte Schroeder in Schaffenburg allerdings auch nichts mehr tun. Aber wenn es etwas anderes war –?
    Und das Mädchen: Eine durchtrennte Oberlippe war verflucht schwer zu nähen, fiel ihm plötzlich ein. Er sah die Seite in Wullstein-Wilms ›Lehrbuch der Chirurgie‹, wo davon die Rede war. Wenn das Lippenrot nicht auf den Millimeter aneinandergepaßt wurde, dann konnte von Schönheit nicht mehr die Rede sein. ›Das geht mich nichts an, ich bin kein Dermatologe‹, dachte er wütend; er war müde, sonst nichts, müde. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet und war in der vorigen Nacht herausgeholt worden. Die Geschichte mit dem verstorbenen Wirz lag in einer traumhaft weiten Vergangenheit zurück, so lang war dieser Arbeitstag gewesen. Nun also mußte er noch operieren. ›Elisabeth‹ – dachte er, aber er meinte nicht die Frau, sondern die Lampe zu Hause, die Luft zu Hause, den starken schwarzen Kaffee zu Hause. Er holte gierig eine Zigarre hervor und biß die Spitze ab.
    »Was ist denn los? Macht doch die Fenster auf!« rief Fobianke heftig, noch bevor der Doktor die Zigarre angezündet hatte. Sie rollte zu Boden, Persenthein griff wieder nach dem Puls; er war nicht mehr zu fühlen. Er setzte schnell das Stethoskop auf das einschlafende Herz. Im Wagen roch es nach nassem Leder, nach Straße, Schweiß, Metall. Das Licht war wieder ausgeschaltet worden, denn Müller mußte Strom sparen. Karbon, der auch in besinnungslosem Zustand noch in jeder Wagenmarke zu Hause war, fand den Knipser und schaltete mit seiner heilen linken Hand ein. Er beugte sich über den schlafenden

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