Zwischenfall in Lohwinckel
Franz Albert weg und kurbelte mit seiner Linken das Fenster auf. Draußen war Schwärze, in rauschenden Streifen durchschnitten vom Regen. Drinnen die Männer, durchnäßt, durchschwitzt, beschmutzt, mit Beulen, Flecken, blutunterlaufenen Stellen bedeckt, sahen übel genug aus. »Schöne Sauerei, in die wir gekommen sind«, murmelte Karbon, mit einem kleinen zornigen Versuch zu lachen.
Fobianke fuhr schon wieder gegen einen Baum, auch seine Frau war da, hinter den schwarzen Dingen, die immer über den Weg kamen. »Macht doch das Fenster auf!« bat er. »Macht doch das Fenster auf!« Der Doktor half ihm bei den zwei nächsten Atemzügen. Es schien Fobianke, als würde er nun gleich Luft bekommen. Er atmete ein, schnell, heftig, verzweifelt – und dann ganz langsam aus. Der Puls war schon verschwunden gewesen, als Fobianke noch lebte. Nun rutschte nur sein Kopf ein wenig tiefer gegen Doktor Persentheins Brust, und dann wurde Ruhe im Wagen.
»Die Fenster sind ja offen, Fobianke«, sagte Peter Karbon, dem selber reichlich übel war, in tröstendem Ton zu seinem toten Schofför.
Man näherte sich der Stadt. Unter dem heiligen Georg am Angermann brannte eine der hundertvierundneunzig Laternen von Lohwinckel, das Angermannshaus bebte, als sie durchs Tor fuhren. Die Radfahrer mit ihren kleinen Laternen umgaben den langsamen Wagen wie ein Schwarm von Leuchtkäfern, mitten in der zerrissenen Oktobernacht.
Nicht ob die großen wachen Städte, ob Berlin, Paris und London einen Namen kennen, ist ein stichhaltiger Beweis für seine Berühmtheit. Der Ruhm beginnt erst dort, wo jedes kleine Nest weiß, um was und wen es sich handelt. Plakate, Filme, Radiovorträge, illustrierte Zeitungen, das sind die Herolde und Fanfarenbläser, die in jedem Winkel Lärm machen, bis ihre Schützlinge bekannt sind.
Berühmtheiten dieser Art waren es, die nun mit – glücklicherweise nicht schweren – Verletzungen in Lohwinckel Unterkunft gefunden hatten. Um Leore Lania wußte jeder Mensch Bescheid, der die Kinoaufführungen besuchte, die Mittwoch und Sonnabend in Oertchens Gasthof von dem unternehmenden Konkurrenten des ›Weißen Schwanen‹ veranstaltet wurden, und das waren alle Leute aus Obanger und die meisten aus Lohwinckel – mit Ausnahme der Gymnasiasten, denen der kinofeindliche Direktor Burhenne den Besuch ein für allemal verboten hatte, und einiger Prieler, die zu vornehm und weltläufig waren, wie beispielsweise Frau Profet oder Frau und Tochter des Bürgermeisters Doktor Ohmann. Karbons Reifenplakat hatte man auch täglich vor Augen, es hing blau und gelb neben der Tankstelle, die der Wagenschmied Torbiß in Betrieb gesetzt hatte. Franz Alberts Namen kannten zumindest die jungen Lohwinckler von Quarta aufwärts, und auch die andern erinnerten sich an Zeitungsmeldungen, denen sie mit innerem Widerstreben entnommen hatten, daß so irgendein Boxer nach seiner Rückkehr aus Amerika in unanständig übertriebener Weise gefeiert worden war.
Daß sich auf ihrer Chaussee ein nennenswertes Unglück ereignet hatte, das erfüllte die Lohwinckler genugsam mit jener sonderbaren Gefühlsmischung aus Stolz und angenehmem Grausen, das alle Katastrophen zu begleiten pflegt. Aber als am nächsten Morgen bekannt wurde, welche Anhäufung von Berühmtheiten dieser Anlaß nach Lohwinckel gebracht hatte, begann die kleine Stadt brodelnd zu kochen. Klumpen erregter und neugieriger Mitbürger fanden sich an den Zentralpunkten des Ortes ein: beim Frisör Kuhammer, beim Schlachter Seyfried, beim Juden Markus. Apotheker Behrendt berief eine außertourliche Abendzusammenkunft der Brüderschaft ›Einigkeit‹ in den ›Weißen Schwanen‹, da er deutlich das Bedürfnis seiner Vereinsgenossen spürte, sich Aussprache und Informationen zu verschaffen. Das Gymnasium fieberte von oben bis unten, ununterbrochen wurden zu Kugeln gedrehte Briefe mittels Schießgummis durch die Klassen befördert, und das Pausengebrüll auf dem Schulhof hatte etwas Erschütterndes und Explosives. Alle Welt machte sich auf den Straßen zu schaffen, stand im Meinungsaustausch miteinander an Ecken und patrouillierte vor den Häusern, in denen einer der Verunglückten untergebracht war. Es gab aber auch Geduldige wie die Schneiderin Ritting aus der Wassergasse oder der vierundachtzigjährige Flickschuster Haberlandt, von dem blindgewordenen Kriegsinvaliden Munter zu schweigen, die inmitten von allerhand Kindern stundenlang vor diesen Häusern herumsaßen, in einer sonderbaren
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