Zwischenspiel: Roman (German Edition)
geworfen war, so dass ich nur einen Weg sah, der mir, wenn ich der Gefangenschaft schon nicht entkommen konnte, ein würdiges Leben ermöglichte: dieser Arbeiter- und Bauern-Gesellschaft jede Nützlichkeit und, soweit möglich, sogar mein Interesse zu versagen, wobei der Alkohol mein treuester Verbündeter wurde. Allerdings zog ich später eine bekömmlichere Essenz als Sekt vor und wurde, wie Sie sehen, zum gewöhnlichen Biertrinker. Wer so trinkt wie ich, will nicht sterben, sondern leben. Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe am Glück, von dem ich ohne meine tägliche Ration Bier ausgeschlossen gewesen wäre und mich wahrscheinlich schon mit zwanzig vor eine S-Bahn geworfen und einen unschuldigen Zugführer lebenslang traumatisiert hätte. Das Elend war nur, dass meine Organe samt dem Gehirn mein unbändiges Glücksstreben nicht überlebt haben.
Weißt du, dass Hendrik mitgeschrieben hat, wenn ihr euch getroffen habt?, fragte ich.
Aber Gnädigste, ich habe ihm doch alles in seine blauen Heftchen diktiert. Er war mein dankbarster Zuhörer, ach, dankbar, gierig war er, was mich zu Außerordentlichem beflügelte und mir obendrein die Genugtuung verschaffte, ohne die Schmach eigener Verschriftlichung meinen Teil zur Literatur beizutragen. Bis die Enttäuschung seinen Freundesblick zu verdunkeln begann, als die ersten Anzeichen meiner Verblödung einsetzten und für die magere Ausbeute von einem oder zwei Sätzen im blauen Heft die durchzechte Nacht sich nicht mehr lohnte. Aber da lockte ja schon der Ruhm auf der anderen Seite, und mein Freund, der Hundsfott, rannte dem Erfolg hinterher wie ich bei sinkendem Pegel dem nächsten Liter Frischbier.
Bruno prostete mir zu und ließ einen kräftigen Schluck von seinem Phantombier durch die Kehle fließen, gähnte ausgiebig und fragte dann, als sei er meiner Gesellschaft plötzlich überdrüssig, was ich in diesem Park eigentlich zu suchen hätte.
Ich sagte, dass ich das selbst nicht wisse und eigentlich zu einer Beerdigung gewollt, aber den Friedhof nicht gefunden hätte. Der Friedhof sei gleich nebenan, sagte Bruno und zeigte mit dem Daumen nach rechts in die Richtung, aus der ich gekommen war, da liege er auch.
Und warum bist du hier, fragte ich.
Ich bin nicht hier, ich liege da, sagte er und zeigte wieder mit dem Daumen nach rechts.
Aber ich sehe dich doch und höre dich.
Das sei meine Sache, sagte Bruno, und dann war er verschwunden.
Was sollte das heißen: es war meine Sache. An Bruno hatte ich lange nicht gedacht, ich hatte auch nicht an ihn denken wollen, schon gar nicht an Hendrik. Aber warum war ich, wenn der Friedhof nebenan lag, an ihm vorbeigefahren, da ich doch auf Brunos Begräbnis gewesen war und das große Friedhofsportal, an das ich mich deutlich erinnerte, hätte wiedererkennen müssen.
Hendrik und ich waren zufällig zur gleichen Zeit vor dem Friedhof angekommen. Es war Herbst, eine schwere Feuchtigkeit vernebelte die Luft, vermoderndes Laub bedeckte die Erde und verströmte den Geruch von Vergänglichkeit. Ein Wetter, wie bestellt für eine Totenfeier. Hendrik kam allein, die Schwäbin hatte Bruno wahrscheinlich auch gar nicht gekannt. Einen Augenblick zögerten wir beide, gingen dann aber aufeinander zu und, weil uns keine Wahl blieb, gemeinsam durch das große Portal und den Weg zur Kapelle. Der Anlass der Begegnung ersparte mir, Freude zu heucheln. Auch Hendrik gelang nur ein schiefes Lächeln. Ich hatte damit rechnen müssen, ihn hier zu treffen, und eigentlich war ich nur seinetwegen hier, wegen all der Jahre; zu den meisten hatte auch Bruno gehört. Hendrik erkundigte sich nach Fanny. Ich sagte, Fanny gehe es gut, sehr gut. Der Wind blies uns ins Gesicht und machte das Sprechen noch schwerer. Kurz bevor wir die Kapelle erreicht hatten, vor der nicht mehr als zehn Menschen wartend und frierend herumstanden, sagte Hendrik mit einer Bestimmtheit, als wolle er sich selbst von jedem Zweifel erlösen: Bruno wollte sterben.
Ich sagte den Satz, den Olga damals, als ich vor dem kranken Andy geflohen war, zu mir gesagt hatte: Schuld bleibt immer, so oder so.
Ich hatte an diesen Satz seitdem oft denken müssen. Er war desillusionierend und tröstlich zugleich. Bilde dir nichts ein, hieß er, auch auf dich warten Scheidewege und Fallen, auch du wirst nicht davonkommen. Der Trost war nur: man konnte nicht davonkommen, wie immer man sich auch mühte. Schuld bleibt immer, sagte ich noch einmal, und Hendrik antwortete: Er wollte
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