Zwischenspiel: Roman (German Edition)
sterben.
Vielleicht wollte Bruno am Ende wirklich sterben, wer konnte das wissen. Vielleicht war ihm, nachdem Hendrik samt den blauen Heften einfach hinter die Mauer entschwunden war, sein wichtigster Grund zu leben abhandengekommen, und er hatte das Gefühl, nicht nur den Freund, sondern auch seine Seele, die er Hendrik in die blauen Hefte diktiert hatte, verloren zu haben. Auf jeden Fall soll Bruno, der bis dahin als kontrollierter Pegeltrinker gegolten hatte, kurz nach unserem Weggang dem hemmungslosen Suff verfallen sein. Und wahr ist auch, dass Hendrik, nachdem sein Vorrat an Brunos gespeicherter Seele aufgebraucht war, nie wieder schreiben konnte wie vorher. Obwohl sein Stil mit der Zeit sicherer und geschickter wurde, fehlte den späteren Geschichten etwas schwer Benennbares, das allen Gewissheiten gleich wieder den Boden entzog, das im Tragischen das Lächerliche durchscheinen ließ und umgekehrt, das glauben ließ, der Autor verfüge über ein geheimes Wissen, das ihn Menschen und Räume deutlicher erkennen ließ als andere, eben etwas, das Hendrik nur Brunos genialisch traurigem Blick auf die Welt zu verdanken hatte, der ihm nun abhandengekommen war.
Als ich Hendrik kennenlernte, arbeitete er noch als Rezensent für eine Berliner Zeitung und schrieb gerade an seinem ersten Buch. Es war die Geschichte seines Vaters, der als sehr junger Mann ein glühender Verehrer des Führers gewesen war, später, nach sechsjähriger Kriegsgefangenschaft in Sibirien, zum überzeugten Kommunisten wurde und der, als ihm sein zweiter Irrtum allmählich, aber unabweislich bewusst wurde, in Depressionen verfiel. Er starb 1968 an einem Herzinfarkt während einer Nachrichtensendung, in der er sah, wie die sowjetischen Panzer in Prag einrollten. So war es jedenfalls in Hendriks Buch.
Außer Hendrik und seinem Verleger glaubte niemand, dass dieses Buch die Zensur passieren würde. Gottfried Süß, den Leiter eines kleinen Verlages in Thüringen, der vornehmlich Heimatliteratur im weiteren Sinne veröffentlichte, hatte Hendrik durch Zufall während einer Ferienreise nach Bulgarien kennengelernt. Während der drei Wochen in einem Ferienheim für Journalisten und Künstler hatten sie einige Flaschen Mastika, die bulgarische Variante von Ouzo, und noch mehr Flaschen Wein miteinander getrunken und sich die Geschichten ihres Lebens erzählt. Die wichtigste Geschichte im Leben von Gottfried Süß war sein Tod, der vier Minuten währte, ehe er wiederbelebt wurde und das Wasser, das ihm beim waghalsigen Baden in den zu hohen Wellen der Ostsee in die Lungen geraten war, wieder ausspeien konnte. Danach beschloss er, sein zweites, geschenktes Leben ganz in den Dienst der Wahrheit zu stellen, statt es wie sein erstes den Anforderungen einer angemaßten Herrschaft über Gebühr anzudienen. Gleich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus rief er den für ihn zuständigen Genossen bei der Kreisverwaltung für Staatssicherheit an und bat um ein Gespräch, in dem er seine Mitarbeit aufkündigte, zu der er sich in seiner Funktion als Verlagsleiter hatte verpflichten lassen und der er eher widerwillig und bedacht darauf, niemandem ernsthaften Schaden zuzufügen, nachgekommen war. Er begründete seinen Entschluss mit seiner nach der Todeserfahrung stark erschütterten psychischen Stabilität, derentwegen er sich einer so speziellen Aufgabe derzeit nicht gewachsen fühle.
Es gehörte offenbar zu seinem Entschluss, sein Leben fortan als aufrechter Mensch zu bestreiten, dass er so freimütig und furchtlos über seine Verfehlungen sprach. Als Hendrik ihm von der Tragödie seines Vaters erzählte, fand Gottfried Süß darin wohl auch Spuren seiner eigenen Irrtümer und Enttäuschungen. Außerdem fasste er ein intuitives Vertrauen in Hendriks Talent, Geschichten zu erzählen, ohne eine Zeile von ihm gelesen zu haben. Nach Hendriks Berichten hatte Süß ihm eines Nachts, beflügelt von der Euphorie des gemeinsamen Rauschs, einen Vertrag und ein kleines, aber ausreichendes Stipendium für den Roman über die Geschichte seines Vaters angeboten. Hendrik, der bis dahin ein paar Erzählungen, vor allem aber Gedichte geschrieben hatte, beendete seine Rezensententätigkeit und sah sich endlich am Ziel seiner jugendlichen Träume angekommen. Er war jetzt ein Schriftsteller.
Ich lernte ihn bei einer Geburtstagsfeier kennen, wo ich ganz zufällig gelandet war, weil eine Freundin mich mitgenommen hatte. Ein paar Tage später rief er mich an, die Telefonnummer
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