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Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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weil ein junger Pfarrer glaubte, in seiner Dorfkirche eine Marienstatue von unschätzbarem Wert entdeckt zu haben. Ich verstand nicht viel von sakraler Kunst, aber der zuständige Mitarbeiter war krank oder im Urlaub. Jedenfalls fiel die Wahl auf mich. Fanny war gerade drei oder vier Monate alt. Unser Direktor hatte mir seinen Dienstwagen zur Verfügung gestellt, weil die Zugverbindungen in die entlegene Gegend wegen Schnee und Eisglätte wie in jedem Winter unberechenbar waren. Der Fahrer war ein besonnener Mann um die fünfzig. Trotzdem saß ich steif vor Angst auf der Rückbank, und die Tränen liefen mir über das Gesicht, weil ich sicher war, dass diese Fahrt dazu bestimmt war, mich als Strafe für meinen hochmütigen Umgang mit dem Tod aus meinem ungeheuren, fast noch unverstandenen Glück zu reißen.
    Die Marienfigur erwies sich als eine geschickte Kopie aus dem neunzehnten Jahrhundert, nicht viel mehr wert als unsere Fahrt über die eisverkrusteten Serpentinen.
     
    Jemand tippte mir sanft auf die Schulter, Olga stand hinter mir, diesmal nicht im Totenhemd, sondern wie ich sie im Leben gekannt hatte, mit einem schmalen Rock, einer cremefarbenen Bluse und der dunkelblauen Strickjacke.
    Komm weg von dieser Bank, sagte sie, steh auf, wir gehen ein Stück.
    Ist die Beerdigung schon vorbei, fragte ich.
    Schon seit über einer Stunde, sie trinken schon fröhlich und brauchen mich nicht mehr. Es ist schön hier, sagte Olga.
    Und es duftet so, sagte ich, weil ich wegen meiner immer noch eingeschränkten Sehfähigkeit die Schönheit des Parks nicht beurteilen konnte.
    Wir bogen ab in einen menschenleeren Seitenweg, der so schmal war, dass wir nur mit Mühe nebeneinander gehen konnten. Ich überlegte, ob ich Olga jetzt fragen könnte, was ich mich zu ihren Lebzeiten zu fragen nicht gewagt hatte. Aber noch ehe ich das Für und Wider erwogen hatte, öffnete sich mein Mund und sprach los. Seit ich in der Zeitung den Aufsatz eines Hirnforschers gelesen hatte, der die freie Willensbildung des Menschen bestritt und behauptete, dass, ehe wir etwas bewusst entscheiden, die Wahl in unserem Hirn längst getroffen sei, beobachtete ich zuweilen das kausale Verhältnis zwischen meiner Entscheidungsfindung und der folgenden Aktion. Das Ergebnis war bestürzend, wie jetzt gerade. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich Olga diese bestimmte indiskrete Frage stellen wollte oder nicht, hatte etwas in meinem Kopf längst die Entscheidung getroffen, und ich hörte überrumpelt, wie ich Olga fragte, warum sie bei Hermann geblieben sei, auch als sie von der zweiten Frau und deren Kindern schon wusste.
    Ich selbst hatte von Hermanns Doppelleben erst bei seiner Beerdigung erfahren. Etwas abseits von Olga und ihren Söhnen, aber nahe am Grab standen zwei mir unbekannte, von Schluchzen geschüttelte Mädchen, vielleicht vierzehn und fünfzehn Jahre alt, deren herzzerreißende Trauer ich mir nicht erklären konnte.
    Das sind Hermanns Töchter, klärte Rosi mich auf, kennst du die Geschichte nicht?
    Die Geschichte war mindestens so alt wie die Mädchen: Hermann hatte, solange ich ihn kannte, eine zweite Familie, eine Frau und zwei Töchter, denen er Kleider gekauft, Ferienreisen und Jugendweihen finanziert hatte und denen er vielleicht ein zärtlicherer Vater gewesen war als seinen Söhnen, die er mit Olga hatte. Das erzählte mir später Fanny, die bis zu Hermanns Tod von dieser Verwandtschaft auch nichts geahnt hatte.
    Was sind die eigentlich von mir, hatte Fanny gefragt.
    Deine Tanten.
    Wieso? Die sind doch nicht älter als ich.
    Trotzdem, die sind deine Tanten.
    Wie lange Olga und ihre Kinder von Hermanns ungeheuerlichem Betrug schon wussten, erfuhr ich auch später nicht. Olga sprach nicht darüber, und ich wollte sie nicht fragen. Nur einmal hatte Olga erzählt, dass sie, nachdem eine Geliebte Hermanns sie aufgesucht und zum Verzicht auf ihren Ehemann aufgefordert hatte, nie mehr hätte mit ihm zusammen sein können wie vorher, womit sie wohl meinte, dass sie seitdem nie mehr mit ihm geschlafen hatte. Und es klang so, als hätte dieses Ereignis sehr lange zurückgelegen. Es sei nicht mehr gegangen, sie hätte es einfach nicht mehr gekonnt. Das war die einzige Intimität, die Olga mir gegenüber in fast dreißig Jahren preisgegeben hatte.
    Der Pfad hatte sich noch verengt, und ich lief jetzt hinter Olga.
    Warum bist du nicht einfach weggegangen, rief ich ihr nach.
    Olga blieb stehen, drehte sich um, sagte: Einfach. Einfach weggehen.

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