Zwischenspiel: Roman (German Edition)
der Böse. Der Hohn sprühte leicht wie Nieselregen durch seine Worte, als wäre das seine natürlichste Art zu reden.
Er erwartete keine Antwort und sprach einfach weiter: Ich weiß seit einem Novembertag vor dreißig Jahren, ich hatte gerade meinen fünfzehnten Geburtstag hinter mir, dass etwas unwiderstehlich Böses mich beherrscht. Es war am frühen Abend. Ich hatte in der Kantstraße einen Freund besucht und lief in Richtung Wilmersdorfer Straße zur U-Bahn. Es regnete. Plötzlich hörte ich kurz hinter mir das Quietschen von Bremsen, dann ein dumpfes, klatschendes Geräusch, als wäre ein Auto gegen einen Berg nasser Pappe geprallt. Ich ging zurück. Ein Mann lag reglos auf der Straße, aus seinem Schädel rann unaufhörlich Blut, vermischte sich mit dem Regenwasser und zerfloss in den Poren der Asphaltdecke. Ich wartete, bis die Ambulanz kam. Ich wollte wissen, ob der Mann tot war. Ich wollte, dass er tot war. Ich wollte dabei gewesen sein, wenn ein Mensch so starb, eben noch ganz lebendig ohne einen Gedanken an den Tod, und Sekunden später nur noch die Hülle des Menschen, der er bis eben gewesen war, nur noch eine Leiche, der Mensch in seiner Vergangenheitsform. Er war tot, sie zogen ihm ein weißes Tuch über das Gesicht und fuhren ihn weg. Ganz benommen von einem erhabenen, dunklen Gefühl blieb ich noch eine Weile stehen und sah zu, wie der Regen das Blut langsam in den Gully spülte. Dann ging ich weiter zur U-Bahn und fuhr nach Hause. Dieses Geräusch aber, dieser unspektakuläre, klanglose Aufprall, der zugleich etwas Endgültiges signalisierte, verstopfte mir für den Rest des Tages die Ohren. Wieder und wieder hörte ich das dumpfe Klatschen, sah das grauweiße Gesicht des Mannes und wie das Leben als rotes Rinnsal aus seinem Kopf floss. Später, als es zu verklingen drohte, rief ich es zurück. Ich wurde süchtig nach diesem banalen Augenblick zwischen Leben und Tod, und der Gedanke, dass ich ihn vielleicht nie wieder so nah erleben würde, war unerträglich. Obwohl ich kein sportlicher Mensch war und an sportlichen Ereignissen kaum Anteil nahm, begann ich mich für gewisse Sportarten zu interessieren. Ich sah mir zur Verwunderung meiner Eltern Übertragungen von Formel- 1 -Rennen an, die Vier-Schanzen-Tournee und Abfahrtsläufe, immer in Erwartung eines tödlichen Unfalls. Aber seit dem Tod von Ayrton Senna beim Großen Preis von San Marino 1994 gab es in der Formel 1 keinen toten Fahrer mehr, nur noch zwei oder drei Streckenposten, für die sich keine Kamera interessierte. Aber es war sowieso kein Ersatz. Ich wollte sehen, wie das Auge erstarrt, wie der letzte Atemzug der Lunge entweicht, wie das Licht ausgeht. Seitdem jagte ich dem Tod hinterher, im Nebel auf Autobahnen, auf vereisten Landstraßen, lauerte an gefährlichen Kreuzungen. Ich beobachtete leichtfertige und verträumte Menschen wie Sie, um dabei zu sein, wenn sie durch die Luft geschleudert oder unter den Reifen zerquetscht wurden. Bis ich eines Abends, als ich auf eisglatter Landstraße eine Frau aus dem Wrack ihres Autos ziehen wollte, selbst unter die Räder eines Sattelschleppers geriet.
Plötzlich hielt der Mann inne, sah mich an und fragte: Und? Was sagen Sie?
Haben Sie selbst einen Menschen getötet?
Das ist anzunehmen. Vermutlich wäre die Frau, deren Bergung mich das Leben kostete, nicht gegen den Baum gefahren, hätte ich sie nicht bedrängt und geblendet. Wahrscheinlich bin ich auch am Tod meines Vaters nicht unschuldig. Ich habe zehn Minuten gewartet, ehe ich den Rettungsarzt rief. Und ich habe einmal scharf gebremst, als ein Motorradfahrer dicht hinter mir fuhr. Er segelte zwanzig Meter weit durch die Luft und starb in meinen Armen.
Wir standen einander gegenüber wie zwei Tiere, die sich gegenseitig belauerten. Ich versuchte zu lächeln, damit er glauben könnte, ich fürchtete mich nicht vor ihm, sondern hielte ihn womöglich nur für einen abartigen Aufschneider, der Gräueltaten erfand, um andere Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Und wären seine jahrhundertealten Augen nicht gewesen, hätte ich ihm vielleicht auch nicht geglaubt. So aber hielt ich alles, was er erzählte, für wahr. Und ich fürchtete mich vor ihm.
Warum erzählen Sie mir diese Geschichten, fragte ich.
Warum hören Sie mir zu, sagte er.
Sie haben mich nicht gehen lassen.
Ach was, Sie waren fasziniert. Spätestens wenn ich sage, ich sei ein böser Mensch, sind alle fasziniert, Sie sind da keine Ausnahme. Wer gibt schon zu, dass
Weitere Kostenlose Bücher