Zwölf Wasser Zu den Anfängen
Augen zufielen. Die Welsen waren zur Kremlid in die Stadt gekommen – und das war ein guterZeitpunkt gewesen. Felt hatte es bereits bei der ersten Audienz bemerkt und bei der zweiten war es nicht anders gewesen: Die Undae wollten die Menschen von Pram nicht in Sorge stürzen. Sie teilten den Pramern nicht das mit, was sie den Welsen mitgeteilt hatten, und sie wollten nicht mehr Aufmerksamkeit als die, die sie durch ihre Anwesenheit ohnehin bekamen. Wobei die Ehrfurcht, die ihnen in Pram entgegengebracht worden war, aus einer Tradition kam, deren Ursprung längst vergessen war. Auch Sardes, der Hüter, war noch da, wie er immer da gewesen war, aber in welcher Funktion, darüber machte sich kaum einer mehr Gedanken. Sein Hinscheiden war ein großes Drama auf offener Bühne – aber es dauerte zu lange, um die Zuschauer noch zu fesseln. In über hundert Soldern konnte sich ein Volk an alles gewöhnen. Die Welsen hatten gelernt, mit der täglichen Bedrohung durch den Hungertod umzugehen. Wie leicht musste es sein, den langsamen Tod der Selbstlosigkeit hinzunehmen? Das Auf und Ab des täglichen Lebens, die Geschäfte, die Bauvorhaben, Beziehungen und Vergnügungen, hatten Sardes und die tiefe Bedeutung der Quellen für das Leben aller überwachsen. Auch Felt hatte von dieser Bedeutung nichts gewusst, auch er war mit dem Leben beschäftigt gewesen, mit dem Überleben im Jetzt – nicht mit der Vergangenheit, mit Geschichte.
Für Wigo aber war die Geschichte nicht tot, er war am Gestern so interessiert wie am Heute und sein Geist schien sich zu einem großen Teil schon im Morgen zu bewegen. Er
wusste,
um was es ging. Er
wusste
von der Bedeutung der Quellen für die Menschen des Kontinents – und er
wusste
, was passieren würde, wenn diese Quellen versiegten. Felt hingegen konnte sich das nicht einmal vorstellen. Was genau würde mit ihm geschehen, wenn seine Menschlichkeit sich nach und nach von ihm entfernte? Würde er es überhaupt bemerken? Oder würdeer sich auch daran gewöhnen? Daran, ein Tier zu sein, nein, schlimmer noch: eine Kreatur, gierig und rücksichtslos.
Während der Audienz hatte Felt Wigo aufmerksam beobachtet. Der Übersetzer hatte zum Aufbruch gedrängt, ohne es direkt auszusprechen. Er hatte die knappen Anweisungen der Undae rasch aufgegriffen, war mit schwungvollen Gesten über die ausgebreiteten Pläne des Kartografen Telden gefahren, hatte dem Fürsten mehrfach ein Nicken abgenötigt – und schon war es beschlossene Sache gewesen: Marken sollte den Eldron hinab nach Süden fahren, Kersted machte sich auf nach Westen und Felt ging nach Norden. Der Moment der Trennung von den Kameraden war gekommen, lang erwartet und dennoch seltsam plötzlich. Felt hatte einsehen müssen, dass Prams Herz schneller schlug als das von Goradt. Sie hatten an dieser Stadt nicht vorbeigehen können. Aber der Gedanke, Pram von sich selbst abzulenken, es aufzurütteln durch die Nachricht von einer nicht näher bestimmbaren Bedrohung, war naiv gewesen. Und je länger Felt darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihm: Das war nie die Absicht der Undae gewesen. Sie hatten die pramschen Quellen und ihre Hüter aufsuchen wollen, Torvik und Sardes. Das Erscheinen der Welsen hatte für mehr Gesprächsstoff gesorgt als das Erscheinen der Undae. Die Welsen hatten große Schatten geworfen, in denen die Undae ungestört wandeln konnten.
Sie bewegten sich in anderen Dimensionen, die Zeit der Undae war nicht die Zeit der Menschen. So war es am Uferposten gewesen, als das Warten an den Nerven der Welsen gezerrt hatte. So war es jetzt, beim mühsamen Marsch durchs Moor. Es drängte Felt, vorwärtszukommen, die Sache zu erledigen – dabei wusste er weder, wohin genau die Reise ging, noch, wie die Sache wirklich zu erledigen war. Die Quellen aufsuchen.Das Wasser des Sees zu den Anfängen tragen. Aber: Die Reise war lang und der Ausgang war ungewiss. Er erinnerte sich an das, was er in der Hadred gesagt hatte, kurz nachdem ihm sein Schwert übergeben worden war:
Wir ziehen nicht in den Krieg.
Nein, das taten sie nicht. Das wäre einfach gewesen. Das wäre zu verstehen gewesen. Sie aber zogen mit knapp vierzig Personen und ihren Reit- und Lasttieren durch ein blühendes Moor. Und während sie stolperten, schwitzten und zerstochen wurden, versiegte irgendwo auf dem Kontinent eine Quelle und ihnen allen kam ein Stück ihrer Menschlichkeit abhanden.
Es war beängstigend. Und es war einfach nicht zu
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