Zwölf Wasser Zu den Anfängen
Boirad, zum Nebelwald, war es still geworden. Timok schaute in Richtung der grauen Stämme, zwischen denen der Nebel so dicht hing, dass es aussah, als stünden die Bäume in Milch.
»Ein gutes Versteck«, sagte Timok. »In den Boirad geht keiner rein. Und es kommt auch keiner raus.« Er versuchte ein Lächeln, aber der Scherz war misslungen. »Was ist nur los mit euch Leuten, dass ihr alle da hinwollt?«
Babu zuckte die Schultern. »Was Felt und die Unda wollten, weiß ich nicht. Ich will unsichtbar sein, und das scheint mir der richtige Ort dafür. Der Falke wird mich führen. Eine Szasla sieht viel.«
Timok sah skeptisch auf Juhut, schwieg aber.
»Timok, bitte sag deiner Schwester …« Babu brach ab.
»Ich werde ihr sagen, dass sie das schönste Mädchen ist, das du je gesehen hast, dass du bald zurück sein wirst und dass du in der Zwischenzeit vor Kummer nicht essen und trinken wirst – so etwas in der Art. Lass mich nur machen, ich weiß, was sie hören will.«
Babu schaute in die Nebelmilch und versuchte zu verhindern, dass das Blut ihm ins Gesicht stieg.
»Ist es dir ernst, Babu?«
»Das ist es.«
Timok schaute ihn an und Babu hielt seinem Blick stand.
»Gut.« Timok nickte. »Dann kann ich dir nur raten, dich nicht zu verirren. Enttäusche Nuru nicht. Ich würde dir keine Gelegenheit geben, deinen Dolch zu ziehen.«
»Das wird nicht nötig sein.«
Timok streckte Babu seinen Arm entgegen, sie umfassten die Handgelenke, so lange, bis das Blut des Gegenübers in den eigenen Ohren klopfte.
»Wenn die Jagd nach dir vorüber ist, wirst du einen Hasenschädel finden«, sagte Timok und wendete sein Pferd, »hier, zwischen den Wurzeln.«
»Ich danke dir«, sagte Babu, aber Timok hatte dem Fuchs bereits die Zügel freigegeben und das Tier fiel sogleich in einen gestreckten Galopp und zog die Herde mit sich. Nur mit Mühe und viel gutem Zureden konnte Babu den Braunen daran hindern, hinterherzulaufen. Schließlich beugte sich das Pferd Babus Willen und ging in die entgegengesetzte Richtung. Sobald Babu den Saum des Waldes erreicht hatte, war er so rasch und vollständig verschwunden, als habe er einen Vorhang hinter sich zugezogen.
DRITTES KAPITEL
DIE WIRKUNG DES WALDES
Felt saß mit ausgestreckten Beinen an einen Baumstamm gelehnt und beobachtete einen großen, schwarz schimmernden Käfer beim siebten oder achten Versuch, seinen Stiefel zu erklimmen. Das knapp handtellergroße Insekt krabbelte auf kurzen Beinen, trug aber ein absurd großes Horngebilde auf dem Kopf. Was für eine Belastung, dachte Felt, nahm den Käfer und setzte ihn sich aufs Schienbein. Das Insekt verharrte regungslos und wirkte nun wie eine martialische, aber doch elegante Verzierung. Vielleicht sollte er den Käfer knacken und sich den Panzer auf den Stiefel binden. Felt nahm den Käfer wieder auf und besah sich die Unterseite. Hell, fast hautfarben. Sechs gelenkige, haarige Beine, die Halt suchend paddelten, kleine Beißzangen, die auf- und zuschnappten, ein daumendicker Hinterleib, der sich krümmte. Schlecht gerüstet, dachte Felt, und drückte mit dem Zeigefinger auf den verletzlichen Leib, dann warf er den Käfer in den Nebel. Er schaute zu Reva, die ein paar Schritte entfernt stand und deren silbern schimmernder Umhang in dieser trüben Welt allen Glanz verloren hatte. Sie sah selber aus wie ein Baum, grau, reglos, stumm.
Auch die Nogaiyer waren verstummt, als Felt seinen Nordweiserhervorgeholt und in die Richtung gedeutet hatte, in die sie ziehen wollten. Dann hatten alle durcheinandergeredet und Babu hatte übersetzt: »Da ist die Welt zu Ende, sagen sie, da ist der Boirad, ein Wald im Nebel. Die Toten wohnen dort, sagen sie, die Lebenden kommen nicht wieder, wenn sie dorthin gehen.«
Reva hatte gelächelt und Felt hatte gemeint, so schlimm würde es schon nicht sein. Außerdem wollte die Unda nicht wiederkommen. Felt und sie mussten weitergehen und nicht zurück.
Ein Irrtum. Toten war er nicht begegnet, aber weiter kam er auch nicht. Falls doch, wusste er es nicht. Wieder und wieder hatte Felt die flache Schale befüllt und die Nadel aufgesetzt – sie drehte sich langsam um sich selbst und kam nicht zum Stillstand. Im Gegensatz zu Reva. Die sonst unaufhörlich sich bewegende Unda war erstarrt. Sie sprach nicht mehr. Sie ging nicht mehr. Felt musste sie tragen, und wo immer er sie abstellte, blieb sie stehen, mit matten Augen, den Blick nach innen gekehrt. Felt zweifelte, ob es das Richtige war, sich
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