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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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folgerichtig, dass sich an einem solchen Ort Zeit und Raum verwischten, oder nicht? Wenn man von außen hereinkam, brachte man seine eigene Zeit mit, sein Leben, seine Erfahrungen, aber dann änderte sich die Ordnung: Die Dinge, die Erlebnisse und Gedanken folgten einander nicht mehr, standen nicht mehr in einer Reihe hintereinander. Alles war gleich wichtig oder gleich unwichtig, passiert oder nicht passiert, gedacht und vergessen und wieder neu gedacht und wieder vergessen. Ja, genau so war es: In diesem Wald verwischten Zeit und Raum.
    Felt versuchte zu erspüren, ob ihm diese Erkenntnis Angst machte. Nein, das tat sie nicht. Doch er freute sich auch nicht mehr an der Idee, er war dem Wald gegenüber jetzt vollkommen neutral eingestellt. War diese Gleichgültigkeit nun aber etwas, was ihm Sorge bereiten sollte? War es so, wenn man den Verstand verlor? Dass man sich außerordentlich scharfsinnig vorkam bei der Beobachtung der eigenen Gedankengänge, die sich, hätte man sie jemandem mitteilen können, aber als gänzlich stumpf herausgestellt hätten?
    Felt entschied sich, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben und über diese Frage nachzudenken.
    Dann wurde er abgelenkt, denn der Käfer war zurück. Und hatte seine Artgenossen mitgebracht. Fasziniert beobachtete Felt, wie zwei von ihnen mit ihren Körpern eine Brücke bauten   – sie hakten sich mit ihren Horngeweihen ineinander   –, über die die anderen dann vom Waldboden bequem auf den Stiefel krabbeln konnten. Von da aus ging es weiter. Sie liefen das Bein entlang, dann seitlich über die Schnallen des Brustschutzes bis zum Schulterstück. Dort fanden sie Halt in Feltslangen Haaren und liefen ihm über den Kopf und schließlich wohl den Stamm des Baumes hoch. Felt schaute nicht nach, er rührte sich nicht, es spürte nur die harten Insektenbeine auf seiner Kopfhaut. Was suchten die Käfer dort oben? Die Kronen der Bäume waren verborgen hinter dem Nebel, man konnte immer nur fünf, sechs Stämme weit sehen. Aber die waren so dick, dass man sich ausrechnen konnte, wie hoch die Bäume sein mussten. Felt überlegte.
    Hatte er nicht genau diese Berechnung schon angestellt? Zu welchem Ergebnis war er gekommen? Er wusste es nicht mehr, also müsste er noch einmal nachrechnen. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.
     
    Zwei Reiter. Ein Mann, eine Frau, die Hand zum Gruß erhoben. Im roten Licht der untergehenden Sonne werfen die Körper der grasenden Pferde lange Schatten. Babu rutscht aufgeregt im Sattel hin und her, stellt sich in die Steigbügel, schaut. Die Reiter sind da, ein kurzer Wortwechsel, Lachen. Ist das möglich, dass Fremde sich so freundlich begegnen? Felt kann es nicht glauben, aber er muss den Schwertgriff loslassen, als der Reiter ihm die Hand reichen will. Ein unverständlicher Wortschwall, der sich über ihn und Reva ergießt. Babu ist verstummt und bemerkt nicht, dass er das Mädchen anstarrt.
    »Was hat er gesagt?«
    »Er hat sich vorgestellt«, sagt Reva. »Das sind Timur-Din-Okaz Nogaiyer und Nurda-Ad-Uruz Nogaiyer, seine Schwester.«
    Das Mädchen nickt, lächelt, sagt: »Nuru.«
    Der junge Mann tippt sich an die Brust: »Timok.«
    Felt legt die Hand aufs Herz: »Felt.« Dann sagt er zu Reva: »Ich frage mich, warum sich diese Leute erst komplizierte Namen geben, um sie dann doch abzukürzen.«
    »Diese Leute«, sagt sie mit Blick auf die drei, die sich angeregt über Babus Pferde unterhalten, »können auf eine lange Reihe mächtiger Ahnen zurückblicken. Du siehst hier drei Königskinder, die nicht viel Wert auf ihre Titel legen.«
    Felt ist kein Königssohn. Er ist ein Wachsoldat. Er kennt keine Unbeschwertheit, sondern den Argwohn. Für ihn ist die Möglichkeit, Freundschaft zu schließen, bereits aus der Welt verschwunden.
     
    War es dunkler geworden? Nein, das war eine Sinnestäuschung. Eben saß er noch auf dem Rücken eines Pferdes und die Welt war beleuchtet. Nun saß er mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden eines Waldes und die Welt war verhüllt. Dunkel war es nicht, nur entfärbt. Felt beobachtete zwei Käfer, die sich bekämpften. Sie waren recht groß, die Panzer glänzten schwarz und beide trugen ein verästeltes Horngebilde auf dem Kopf. Einer stemmte sich mit Hinterteil und kurzen Beinen gegen den Stiefelschaft und versuchte den anderen daran zu hindern, sich dem Stiefel zu nähern. Felt zog die Beine an, er wollte es nicht, aber sein Körper wollte es. Er war steif, er musste sich bewegen.

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