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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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Und er ging weiter, denn es war ihm immer schon genug gewesen, den großen Steinkreis zu begehen, in ewiger Bewegung ohne Richtung, ohne Ziel, ohne Fortschritt. Er brauchte kein Gespräch, keine Gesellschaft. Nicht einmal die Liebe, die sonst jeder Mensch braucht, wenigstensein Mal im Leben, um sich als Mensch unter Menschen zu fühlen, um der Angst etwas entgegenzusetzen, um sagen zu können: Ich habe gelebt, bevor ich sterben musste. Felt hatte die Angst längst überwunden und kannte die Sehnsucht nicht mehr. Als ihm die Liebe begegnet war, hatte er sich von ihr mitnehmen lassen wie ein herrenloser Hund, der spürt, dass es ihm unter Menschen gut geht, besser als zuvor. Der leidet, wenn er von den Menschen, denen er treu ergeben ist, verlassen wird. Und der bei alldem dennoch ein Hund bleibt. Dem es wieder schlechter geht und der wieder weiterläuft.
    Felt ging auf Stein, wie immer. Neben ihm ragte Felsen auf, wie immer.
    Irgendwann brach der Berg ab und gab die Sicht frei auf den Berst. Felt schaute weit über die sich kräuselnden Wellen des Wolkenmeers, sah die Schatten in den Tälern und das Licht auf den Kämmen, sah Helles und Dunkleres sich ablösen in endloser Wiederholung, spürte den Wind im Gesicht, roch die Kälte und schloss die Augen.
    Und dann war er ein Körper, der unter der Last zweier anderer Körper zusammengebrochen war und sich nicht mehr bewegte, weil er die Grenze, bis zu der er gehen konnte, erreicht und schließlich überschritten hatte.

 
    SECHSTES KAPITEL
HORN UNTER HAUT
     
    Das Erste, was Babu gesehen hatte, als er wieder zu sich gekommen war, waren helle Lichter gewesen. Er hatte sich an ihnen festgehalten, voller Hoffnung. Es gab keinen Gedanken an Rache, keine niederschmetternde Enttäuschung, keine verlorene Liebe und keinen ermordeten Freund. Die Lichter waren Augen geworden, Revas Augen, sie hatte ihn aufgeweckt. Sie hatte seine Hand aus Felts Hand gelöst, die eiskalt und starr war und die ihn umklammert hielt wie die Hand eines Toten.
    Reva hatte die Fessel durchtrennt und gesagt: »Nein, er ist nicht tot. Aber er ist weit gegangen, vielleicht zu weit. Es war die einzige Möglichkeit. Du hast diesen Weg nicht gehen können und ich auch nicht. Nur wenige finden den Steig und kaum jemand kann ihn begehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass unter allen lebenden Menschen auf dem Kontinent Felt der Einzige ist, der den Vergessenen Steig finden konnte. Deshalb habe ich ihn ausgesucht. Aber es war ein großes Wagnis, ihm diese Aufgabe zu überlassen. Und es war nicht geplant, dass er auch dich tragen musste. Ich weiß nicht, wie lange er gebraucht hat, um uns hierher zu bringen. Ich habe vieles gesehen im Nebel, aber dich nicht und ihn auch nicht. Ich habe keineErinnerung an das, was mit uns geschehen ist oder was ihr getan habt. Der Boirad Fotra, der Alte Wald oder der Nebelwald, wie er heute meist genannt wird, deckt alles Wissen und jeden Gedanken mit den seltsamsten Empfindungen zu   … Aber ich weiß: Felt hat getan, was eigentlich nicht möglich ist. Er hat uns herausgebracht. Wir müssen jetzt warten, ob er zu uns zurückkommt.«
     
    Felt lag auf nacktem Stein   – alles, was sie an Decken, Kochgeschirr, Wasserbeuteln, Vorräten gehabt hatten, war mit den Pferden verschwunden. Auch der Braune, der schöne, große Braune war weg, nichts war Babu geblieben. Er hatte nicht einmal mehr seinen Bogen, er trug nur noch den leeren Köcher auf dem Rücken und den Dolch im Gürtel. Aber Reva hatte Felts Tasche umhängen, die sie nun Babu reichte. Dann wandte sie sich ab und trat vor bis an den Rand des Felsvorsprungs, auf dem sie sich befanden. Hinter ihnen ragte eine zerklüftete Felswand hoch auf, an der sich ein schmaler Pfad entlangschlängelte. Er verschwand unten im Dunst, aus dem sie gekommen sein mussten. Der Wald war genau wie alles andere Land unter dem dichten Wolkenmeer verborgen, durch das dieser hohe Berg hindurchstieß wie eine einsame Insel. Babu konnte weder den Gipfel ausmachen noch den Fuß. Er sah nichts außer rissigem Gestein, einem klaren Himmel   – und der Stadt, die unerreichbar am Horizont schwebte.
    Ohne den Blick von der hellblau leuchtenden Silhouette in der Ferne abzuwenden, sagte Reva: »Sieh nach, was drin ist.«
    Babu hockte sich neben den ohnmächtigen Felt und öffnete die Tasche.
    »Ein Seil, eher ein Strick. Ein lederner Beutel, fühlt sich an wie Geld. Dieser kleine Kasten, da ist der Nordweiser drin. Ein großer Becher aus Metall. Verbeult.

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