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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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blieb der Käfer wieder sitzen, fühlerte ein wenig herum. Wenn man ihn nicht gerade eben hätte laufen sehen, hätte man glauben können, er sei ein Teil der Rüstung, so gut passten die Panzerung des Mannes und des Käfers zueinander. Dann aber öffnete er die schwarzen Deckflügel, flog mit einem tiefen Brummen ein kurzes Stück und landete wiederim Laub. Der Mann ging zu der Stelle und Babu ging mit; die Fesseln waren vergessen. Durch das graue, feucht glänzende Laub am Waldboden krabbelten noch mehr Käfer, viel mehr Käfer. Sie formierten sich, liefen in einer Reihe. Die Männer folgten ihnen. Als wären sie aufgefädelt und als zöge jemand, verborgen im Nebel, am entfernten Ende der Schnur, folgten die Käfer einander über Wurzeln, in engen Schlingen um Baumstämme herum und in gerader Linie über freiere Flächen. Bis sie schließlich   – und mit ihnen die Männer   – zu einer kahlköpfigen Frau gelangten, die stumm und bewegungslos in einem schwarzen Käferwall stand. Bei ihr angekommen, kletterten die Käfer über die, die bereits da waren, und versuchten am langen Gewand der Stehenden weiter hochzukrabbeln. Doch keiner kam weit. Sie fielen von ihr ab und wurden sofort von den nachfolgenden überkrabbelt. Babu nahm einen der abgefallenen Käfer auf   – er rührte sich nicht, nicht einmal die langen Fühler zitterten. Babu drehte ihn um. Die helle Unterseite war mit Reif bedeckt, zwischen den Haaren der kurzen Beine hingen winzige Eiskristalle. Und jetzt spürte er es auch: Von der Frau ging eine eisige Kälte aus; die Käfer waren erfroren beim Versuch, die Frau zu erklettern. Was die anderen aber nicht abhielt, es trotzdem zu versuchen.
    »Was wollen die von ihr?«, fragte Babu. Der Mann antwortete nicht, er hatte ihn ohnehin nicht verstanden. Sie umkreisten die Frau. War sie tot? Der Mann sah der Frau lange in ihr starres Gesicht. Sie hatte die Augen geöffnet, aber auch die bewegten sich nicht. Dann sah er Babu an, mit einem Ausdruck äußersten Befremdens. Kurz darauf spiegelte sich Ratlosigkeit in seinen Zügen, dann wieder etwas anderes   – war das Feindseligkeit? Er rang stumm mit sich. Babu blieb still, erwartete, dass der andere das Schwert hob und ihn erschlug. Aber dann steckte der Krieger das Schwert zurück in die Scheide. Trat indie gefrorenen Käfer, die knackten wie trockenes Unterholz. Fuhr der Frau leicht, sanft, mit den Fingerspitzen über die hellen, verschlungenen Linien über den Augen. Zeichnete jede einzelne mit einer Hingabe nach, die Babu seltsam berührte. Er holte tief Luft und spürte die Kälte in der Nähe der Frau, der eigene Atem gefror ihm im Mund. Dann, unerwartet, ging der große Mann leicht in die Knie, packte die Eisfrau und legte sie sich über die Schulter. Babu dachte, sie müsse zersplittern, aber im Aufheben hatte sie ihre Steifheit verloren, sie hing nun wie ein nasses Tuch über der Schulter des Mannes, die weite Kapuze ihres Umhangs war ihr über den Kopf gerutscht. Der Mann wollte gehen, bemerkte den Zug an seiner Hand, wandte sich zu Babu um. Sie standen sich auf doppelter Armeslänge gegenüber, Babu sah zarte Eisblumen auf dem dunklen Brustschutz blühen, Haare sich weiß überkrusten. Einen langen Moment dachte er, der Mann sei nun ebenfalls erstarrt, da wurde der Belag durchsichtig, die Eisblumen verschwanden und aus den Haaren tropfte es. Babu machte einen Schritt auf den Mann zu, und als der sich zum Gehen wandte, ging Babu ohne zu zögern mit ihm mit.

 
    FÜNFTES KAPITEL
DER VERGESSENE STEIG
     
    Felt war eine Hülle um eine Leere. Da waren kein Gefühl, kein Gedanke und kein Wille mehr. Von ihm selbst war nichts übrig als ein allerletzter Rest, der eine verlorene Handschuh nach dem Aufbruch des Heeres, und dieser Rest war der Marsch. Er erinnerte sich an nichts, er dachte an nichts, er war nur noch Bewegung. Er war ein Körper, der zwei Körper trug. Der eine kaum spürbar, der andere schwerer. Der eine kalt, der andere wärmer. Selten blieb er stehen, um die Last neu zu verteilen. Er ging nicht schnell, er ging in einem Rhythmus, der jeden Ärger, jeden Schmerz und jede Trauer zunichtemachte. Und ohne es zu wissen, ging er im Kreis   – wie er immer gegangen war, auf dem Wall jener Stadt, die einmal seine Heimat gewesen war. Er ging und ging und sah nach einer Zeit keinen Wald mehr, keine sich rankenden Pflanzen, keine fallenden Blätter und keinen Nebel. Irgendwann trat sein Stiefel nicht mehr auf feuchtes Laub, sondern auf Stein.

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