Zwölf Wasser Zu den Anfängen
die ersten Stämme, die dahinterstehenden verschwanden bald im weißen Dunst. Rechts und links des Bogens war der Übergang von Wolkenmeer und Land kaum auszumachen. Allein die große Düse, durch die der Wind hier blies, verschaffte ihm einen etwas weiteren Blick. Sobald er diesen Ort verlassen würde, sobald er in den Wald zurückgehen würde, wäre Felt wieder blind und würde das, was er sich vorgenommen hatte, aus dem Sinn verlieren. Reva musste irgendwo in diesem Wald sein, aber wie sollte er sie finden, wenn er vergessen würde, dass er nach ihr suchte? Er konnte sich nicht einmal selbst eine Botschaft schreiben. Er konnte sich kein Seil umbinden, keine Rettungsleine, denn erstens war sein Seil mit seinem Gepäck verloren und zweitens würde er wohl auch den Zweck des Seils vergessen. Ohnehin wäre es zu kurz. Wie groß war dieser Wald? Die Nogaiyer hatten nichts darüber gesagt, nichts darüber sagen können. Wer hineinging, kam nicht zurück. Reva hatte hineingewollt und Felt hatte ihren Wunschnicht infrage gestellt. Über den Punkt, die Handlungen der Unda anzuzweifeln, war er spätestens seit Wigos Tod hinaus. Aber warum war Babu ebenfalls in den Wald gegangen? Hatte am Ende sein Vogel ihn hierhergeführt? Babu zog die Nase hoch, er hatte sich etwas beruhigt.
»Er kommt bestimmt zurück«, sagte Felt.
Babu schüttelte den Kopf, drückte die Fingerspitzen auf sein Stirnband. »Weg. Verloren. Ganz weg.« Er kämpfte gegen die Tränen an, suchte nach Worten. »Abschied. Fliegt nach Stadt.«
Also doch. Babu hatte es auch gesehen. Felt erhob sich, trat aus dem Schatten der Säule wieder unter den Bogen in den Wind. Er hatte es sich nicht eingebildet: Da war sie, fern, die bläulich schimmernde Silhouette in den Wolken. Da schwebte er, der Glaube, der Mythos:
Wiatraïn, die Stadt im Wind.
Felt schaffte es gerade noch, Babus Mantelsaum zu greifen. So sehr war er an den Falken gebunden, dass er ihm hinterherfliegen wollte.
»Wir werden ihn wiederfinden«, brüllte Felt gegen den Wind an. Doch er glaubte seinen Worten genauso wenig wie Babu, der nun aufgab. Schlaff hing er in Felts Armen und ließ sich von ihm wieder hinter die Säule schleifen und dort ablegen. Die Probleme wurden nicht weniger. Wenn er Babu allein ließe, um nach Reva zu suchen, würde der Junge sich in den Berst stürzen. Wenn er ihn aber irgendwie hier festsetzen könnte, ihn mit einer Schlingpflanze an einen Baum band, würde er ihn ebenfalls dem Tod ausliefern, weil er ihn vergessen würde. Wenn er ihn mitnahm … wenn er ihn mitnahm, dann hätten sie vielleicht eine Chance.
Felt zog Babu den Dolch aus dem Gürtel – und stutzte. Ein Welsenmesser, kein Zweifel. Eine schöne Arbeit, der Dolch laggut in der Hand, den Griff zierte eine Einlage: ein kleiner weißer Stern.
»Woher hast du den?«
Babu antwortete nicht, er war tief in sein Unglück versunken.
Felt schnitt einen Streifen Leder aus Babus Mantel, steckte den Dolch zurück und band sein linkes Handgelenk an Babus rechtes. Dann schlug er ihm kräftig mit der flachen Hand ins Gesicht. Erschrocken schaute Babu auf.
»Hör mir gut zu: Ich will nicht sterben. Ich will nicht, dass du stirbst. Ich will nur eins: Reva finden. Es ist für uns alle sehr wichtig, dass ich sie finde. Verstehst du mich?«
Babu drehte die Augen nach oben, hob den linken Arm mit dem Falknerhandschuh, ließ ihn wieder sinken, legte den Kopf zurück gegen die Steinsäule. Schluckte. Nickte.
»Wenn jemand weiß, wie wir deinen Falken wiederfinden können, dann ist es Reva. Die Unda weiß es, die Unda weiß alles. Also müssen wir erst sie finden, dann den Falken.«
Babu schwieg immer noch. Felt war sich keineswegs sicher, dass Reva einen Weg nach Wiatraïn kannte. Sie hatte erstaunliche Fähigkeiten, aber Fliegen gehörte seines Wissens nicht dazu. Doch er wollte, dass Babu seine ganze Hoffnung, sein Fühlen und Denken, sein ganzes Wesen auf Reva ausrichtete. Babu war die einzige Gedankenstütze, die Felt hatte, und er würde ihn benutzen.
»Schau mich an, Babu, und hör mir zu. Du kennst Reva, du hast sie gesehen. Sie hat mit dir gesprochen. Erinnere dich: Wie klein sie ist. Die hellen Augen. Der runde Kopf, kahl. Die Linien auf ihrer Haut, ihrer Stirn, um die Augen. Erinnerst du dich? Siehst du sie vor dir?«
Babu nickte.
»Dann beschreib sie! Sag es!«, fuhr Felt ihn an. »Sag ihren Namen!«
»Reva«, sagte Babu. »Helle Augen, ganz helle Augen. Runder Kopf und klein, klein wie Merzer.
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