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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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auf Felt, der ihn bisher jedes Mal von dem abgehalten hatte, was er jetzt tun würde. Im Gegenteil: Eine stille Freude erfüllte Babu. Die Freude, Jator wiederzusehen. Sie könnten wieder Freunde sein, jetzt, da sie beide das gleiche Schicksal teilten, da sie beide verraten und verlassen worden waren. Babu schloss die Augen, stellte sich vor, wie er Jator die Hand reichte, wie der zupacken würde, so wie beim ersten Mal, als sie noch Kinder waren, die nichts wussten, aber so taten, als wären sie Männer. Und mit geschlossenen Augen, die Hand ausgestreckt, rannte Babu auf den Rand des Vorsprungs zu, nur drei, zwei Schritte noch   – und ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper, als sei er gegen ein Hindernis geprallt.
    Er riss die Augen auf, instinktiv, seine Hände klatschten auf den Felsboden, ein stechender Schmerz fuhr in Knöchel und Knie. War die Fallhöhe so gering gewesen, dass er sich die Beine gebrochen hatte und sonst nichts?
    Nein. Denn er war zwar gelaufen, aber nicht gesprungen und auch nicht gefallen. Nur auf seine Hände, gerade so, als sei er in vollem Lauf in einen Wühlhasenbau getreten und hingeschlagen, nicht ohne noch schnell die Arme vorzustrecken und sich die Handgelenke zu verstauchen. Aber hier war kein Loch. Hier war Eis. Zwischen seinen aufgestützten Armen schaute Babu zurück auf seine Füße. Sie waren mit einer dicken Schicht aus klarem Eis überzogen. Bis zu den Knien war Babu eingefroren,mitten in einem großen Schritt, weiter hinten lag der umgestürzte Becher.
    Er schaute auf, musste aber auf brennend schmerzenden Händen und weit auseinanderstehenden, festgeeisten Füßen geduckt bleiben wie ein Tier, das zwar zum Sprung ansetzte, aber nicht angriff. Reva stand über ihm. Sie atmete schwer, Babu sah den kleinen, glitzernden Anhänger einer Kette sich heben und senken.
    »Babu, das kann ich nicht zulassen.«
    Ihre Stimme, sonst klar und beinah frei von Gefühl, war belegt, als hätte sie sehr laut geschrien oder lange geweint. Sie ging in die Hocke, Erschöpfung verschleierte ihr Gesicht und ließ sie älter aussehen als eine greise Gerberin, die ihr Leben lang in einem Bottich mit giftiger Brühe gerührt hat.
    Aber als Reva dann wieder sprach, ganz nah bei ihm, hatten ihre Augen die irritierende Strahlkraft zurückgewonnen und ihre Stimme war gelassen wie immer.
    »Ich möchte dir etwas erzählen, Babu. Es gab eine Zeit vor deiner Zeit, vor der Zeit der Zehn Horden, vor der Zeit deines Volkes, vor der Zeit aller Völker. In dieser Alten Zeit gab es keinen Zweifel. Die wenigen Menschen, die in der Alten Zeit über den Kontinent wanderten, hörten die Stimmen der Flüsse, das Ächzen der Berge, das Wispern in den Bäumen   – und sie verstanden. Die Alte Zeit war schön. Aber nicht vollkommen. Das Gute war in der Welt und es war groß und stark, aber das Böse ebenso. Es schuf sich monströse Erscheinungsformen: Ausgeburten der Gier, Bestien, von purem Hass belebt, Ungeheuer, gewachsen in den tiefsten Abgründen der Furcht. Sie waren der Schrecken der Alten Zeit. Aber jeder Mensch, der einem solchen Monster gegenübertrat, konnte nicht anders, als es als Ungeheuer, als böse zu erkennen.
Es gab keinen Zweifel
. Das Böse hatte eine Gestalt.«
    Sie erhob sich. Babu musste gebückt bleiben, die Stiefel aus Eis hielten ihn fest.
    »Aber die Alte Zeit ist vorüber«, fuhr Reva mit ihrer Rede fort, »und du bist voller Zweifel, Babu. Wenn du über das Gras schaust, wenn du die Berge in der Ferne blau schimmern siehst oder wenn sich der Himmel unendlich weit über dir spannt und sich die Nacht in Sterne kleidet   – dann kann es sein, dass du ein tiefes Glück empfindest. Das ist das Echo der Alten Zeit. Aber diese Momente sind selten und sie sind immer seltener geworden, nicht wahr? Das Glück scheint verloren. Viel öfter kann es passieren, dass der Zweifel dich packt   … Wusstest du, dass es die Szaslas waren, die den Zweifel in die Welt getragen haben? Willst du wissen, warum? Oder willst du dich immer noch ins Vergessen stürzen?«
    Ja! Denn er hatte abgeschlossen mit allem, das zweite Herz hatte das erste herausgerissen, es war genug.
    Das dachte er. Aber er schüttelte den Kopf. Nein, er wollte wissen. Wollte alles wissen über die Falken aus der Alten Zeit. Über Juhut, dem er so eng verbunden war, dass seine Anwesenheit ihn schmerzte. Und dessen Abwesenheit er dennoch kaum ertragen konnte.
    Reva lächelte. Sie wandte sich ab, schaute in die Ferne und das Eis begann zu

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