Zwölf Wasser Zu den Anfängen
senken mit jedem Schritt und die roten Augen fixierten ihn ohne Gnade, brannten sich in seine Seele. Er hoffte nicht mehr darauf, aus eigener Kraft aufzuwachen. Wahrscheinlich musste er erst sterben in diesem Traum, um aufwachen zu können und in seine Welt zurückzukehren.
Zehn Schritte, zehn Menschenschritte, trennten ihn noch von dem Untier, das, je näher es kam, umso mächtiger zu werden schien. Es war nicht nur die ungeheure Größe des Wolfs – die Schultern des Mannes und des Tiers waren fast auf gleicher Höhe –, es war seine Präsenz, die scheinbar in dem Maße zunahm, in dem die lodernde Furcht in Felt aufflammte. Bis es keine Furcht mehr war, sondern etwas nie zuvor Empfundenes: helle, glühende Todesangst.
Der Wolf hielt an, fünf Schritte vor Felt. Er sprach wieder, ohne dass sich die Kiefer bewegten und ebenso laut wie zuvor, aber nun, da er so nah war, konnte Felt den gurgelnden, rasselnden Atem des Wolfs hören und er sah, wie sich der Brustkorb mit jedem Atemzug bebend weitete und sich die Rippen abzeichneten.
»Wir müssen alle Opfer bringen, so ist der Lauf der Welt. Im Grunde läuft die Welt nur,
weil
wir Opfer bringen, das ist dir vielleicht neu. Siehst du, ich habe mein Opfer gebracht und das hieß Einsamkeit.«
Es rasselte heftig im Wolf, er hustete und würgte den Auswurf hinunter, dann fuhr er fort.
»Einsamkeit, Einsamkeit – eine Ewigkeit in Einsamkeit. Und dann, süßer als Blut, rieche ich den Duft einer verlassenen Seele, so tief verletzt, so verzweifelt, so allein. Das war Estrid, deine Frau, die zu mir gekommen ist und die ich erwartet hatte von Anbeginn. Denn auch sie hatte ihr Opfer gebracht, längst. Das weißt du, du weißt es genau und du schämst dich – denn der Einzige hier, der ungeschoren davonkommt, bist du, Felt.«
Nun zitterte Felt. Am ganzen Leib und so heftig, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen, als er zugestimmt hatte, diese Reise anzutreten. Und es war eine Lüge, er würde ganz sicher nicht ungeschoren davonkommen.
»Ganz recht«, sagte der Wolf in Felts Kopf, »denn heute Nacht wirst du dein Opfer bringen. Und zwar mir.«
»Dann töte mich doch«, sagte Felt trotzig, aber mit voller Überzeugung.
Wieder ein böses, tiefes Rasseln – der Wolf lachte.
»Dein Blut kann meinen Hunger nicht stillen. Mich gelüstet es nach etwas anderem.«
Er hob den Kopf und stieß ein kurzes, bellendes Heulenaus. Felt wurde das Blut so heiß, dass er das Gefühl hatte, von innen heraus, vom Herzen bis in die Fingerspitzen, bis in die Haarwurzeln hinein zu kochen. Er fühlte, wie die brennende Scham aus ihm herausdrängte, glühend heiße Tropfen, die auf seiner Haut dampften. Das war der Tod. Felt brannte. Brannte in seiner Verantwortungslosigkeit, seiner Reue. Er ging durchs Feuer. Er konnte nicht aufwachen, nicht in seine Welt zurück. Er war auf dem Weg in die andere, und dieser letzte Weg sollte ein qualvoller sein. Nichts bliebe übrig von ihm in dieser Welt, nichts außer Asche.
Und Estrid, die er verlassen hatte und die nun, trotz allem, nah bei ihm stand. Sie blieb auch übrig, denn es lief immer alles auf sie hinaus, sie wäre sein letzter Gedanke: Wie sie da stand, ruhig, im unwirklich klaren Licht das Mondes, den schlafenden Strem auf dem Arm und Ristra an der Hand – ein tröstlicher Anblick, so hatte er seine Familie, hatte er sie alle also doch noch ein Mal gesehen.
»Stirb mir jetzt nicht weg«, grollte der Wolf, »wir sind noch nicht fertig. Ich habe Hunger, ich bin krank vor Hunger. Ich brauche etwas zu fressen. Wen, Felt, willst du mir opfern – deinen Sohn oder deine Tochter? Entscheide dich!«
»Das kann ich nicht!«, schrie Felt, die Haut, die Haare in Flammen. Er hörte seinen eigenen Schrei von weither kommen, von einem Ort irgendwo aus der Mitte der Lichtung, wo er nie gewesen war.
»Du musst dich entscheiden«, beharrte der Wolf, »sonst fresse ich sie beide. Eins musst du geben, sonst sind beide tot!«
»Ich kann es nicht«, stöhnte Felt und seine Stimme war zurück in seiner Kehle, die glühte wie ein Stück Kohle.
»Dann nehme ich mir beide. Und zuerst das Mädchen«, sagte der Wolf und schnappte nach Ristra.
»
Nein!
« Ein Aufschrei, so laut, dass Felt über sich selbst erschrak– und noch mehr über das, was dann aus ihm herausbrüllte: »Nicht das Mädchen! Nimm den Jungen! Aber lass mir meine Tochter!«
Der Wolf ließ von ihr ab, ihr Kleid war nass
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