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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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von seinem Geifer. Ristra weinte, aber sie rührte sich nicht, sie blieb neben Estrid stehen, die teilnahmslos über Felt hinweg in den Wald sah. Lauf weg, wollte Felt sagen, komm zu mir, wollte er sagen. Aber er sagte nichts und er tat nichts, er brannte lichterloh, als der Wolf ein zweites Mal zuschnappte. Und sich mit einer einzigen schnellen Bewegung das schlafende Kind aus dem Arm der Mutter holte.
    Der kleine Kopf zerplatzte zwischen den starken Kiefern des Wolfs und riss ab vom Rumpf.
    Es knirschte, wie eine Schnecke unter dem Stiefel knirscht, als im zweiten Biss Strems Brustkorb brach.
    Und der dritte Biss war ein nasses Geräusch, er zerfetzte den Unterleib, den zarten Kinderbauch, der noch gewölbt war, weil sich der kleine Körper noch nicht gestreckt hatte auf dem Weg vom Säugling zum Kind.
    Ristra schrie wie am Spieß, sie war vollkommen außer sich und über und über mit dem Blut des Bruders besudelt. Aber auch ihre Schreie konnten die Fressgeräusche nicht übertönen, das Schmatzen. Das Schlucken. Felt sah, wie sein Sohn zerbissen wurde, wie er Rumpf, Arm, Schenkel, Gedärme wurde und im Ungeheuer verschwand. Estrid blieb ungerührt. Als ob es ein wenig Rotze wäre, wischte sie mit ihrem Rocksaum der kreischenden Ristra das Blut aus dem Gesicht.
    Felt war fassungslos. Das war Strems Blut, das Blut ihres eigenen Sohns. Aufgefressen. Geopfert. Strem. Er war noch so klein gewesen, nicht einmal laufen hatte er können. Felt hatte ihn im Arm gehalten, vor Kurzem noch, hatte den kleinen, runden Kopf in seiner Hand gespürt   …
    Ihm wurde übel. Er sank, er fiel kopfüber, fing sich auf, bliebauf allen vieren. Er war nicht besser als dieses Tier. Er war kein Mensch mehr. Er hatte seinen eigenen Sohn einem Wolf zum Fraß vorgeworfen. Er würgte. Seine Haut, schwarz verkohlt, war gefühllos geworden, aber seine Seele wand sich voller Qualen im Feuer der Schuld.
    »Nun fängst du an zu begreifen«, sagte der Wolf.
    Wäre er nur endlich still. Würde nur endlich diese entsetzliche Stimme aus seinem Kopf verschwinden. Würde er nur endlich gehen, endlich zerfallen, endlich sterben können. Aber Felt starb nicht. Es war noch nicht vorbei.
    »Nun beginnst du zu verstehen, was Leid ist und was Opfer ist. Aber ganz hast du es immer noch nicht begriffen. Du kannst mich nicht betrügen, Felt, du kannst nicht die Zwischenlösung suchen wie sonst immer. Du kannst mich nicht mit dem Zweitliebsten abspeisen.«
    »Was?«
    Felt hob den verbrannten, haarlosen Kopf. Das Haupt des Wolfs war riesenhaft über ihm und er roch das Blut, als ihm sein Atem entgegenschlug. Strems Blut.
    »Eins müsste ich geben, das andere kann leben   – das hast du gesagt!«
    »Ich habe gelogen«, sagte der Wolf und wandte sich ab und dem Mädchen zu. Ristra schrie immer noch, ohne Pause und so schrill, dass alles, was in diesem Wald lebte, längst aufgeschreckt sein musste. Gab es denn niemanden, der ihm helfen konnte? Der
ihr
helfen konnte? Wo waren seine Kameraden, warum kamen sie nicht?
    »Reva, wo bist du?«, sagte Felt leise.
    Er sprang auf, ein allerletzter, verzweifelter Versuch, und riss seine Tochter an sich. Estrid hob die Arme, als sei sie verwundert darüber, was plötzlich in ihn gefahren war. Der Wolf gab ein wütendes Knurren von sich.
    »Willst du es nicht verstehen oder bist du wirklich so dumm? Es geht doch nicht um das Fleisch deiner Brut. Es geht um
deinen
Schmerz,
deine
Schuld,
deine
Qual. Das ist es, was ich brauche, das ist die Nahrung, nach der es mich verlangt. Ich bin erst satt, wenn dein Schmerz größer ist als du selbst. Gib mir das Kind.«
    »Niemals.«
    Das war nicht Felt, der das sagte.
    Es war Reva.
    Sie stand hinter ihm, legte ihm ihre kühle Hand auf die verbrannte Schulter. Und es war eine Wohltat. Es war die Hand der Mutter auf der fiebrigen Stirn, der erste Schluck Wasser nach dem Tagesmarsch, der aufkommende Wind nach der Mittagshitze. Es war eine silbern schimmernde Wohltat, die sich über Felt ergoss, das Seelenfeuer löschte und die Todesangst wegspülte.
    Die Unda schaute ihn an, tadelnd: »Wie soll ich dich finden, wenn du mich nicht rufst?«
    Sie stellte sich vor ihn und Ristra, die nicht mehr schrie, nur noch schluchzte, stoßweise.
    »Niemand stellt sich zwischen mich und meine Beute«, sagte der Wolf und zog die Lefzen zurück.
    »Und du hast geglaubt, du könntest ein König sein?«, fragte Reva unbeeindruckt von der Drohung und so leichthin, als würde sie ein früheres Gespräch wieder

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