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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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aufnehmen. »Dann lass dir von mir gesagt sein: Ein Wolf kann niemals ein König sein. Der Wolf kann den König fressen, das ist wahr. Aber der König wird wiederauferstehen und herrlicher sein als je zuvor. Der Wolf bleibt der Wolf für alle Zeit.«
    Knurren. Gesträubtes Fell. Aber keine Widerrede.
    »Du weißt, dass ich recht habe«, sagte Reva versöhnlich. Dann, nach kurzer Pause, fügte sie mit messerscharfer Strenge hinzu: »Verschwinde! Ich befehle es dir!«
    Der Wolf ging ein paar Schritte rückwärts, gegen seinen Willen, aber er ging, er wich zurück vor der bloßen Handfläche, die Reva gegen ihn ausgestreckt hatte. Dann drehte er sich um und lief wie ein Hund, dem man einen Tritt verpasst hatte, mit eingezogenem Schwanz über die Lichtung, bis der Wald ihn verschluckte.
    Felt hielt Ristra fest umschlungen, er fühlte, wie sie ruhiger wurde. Dennoch. Das, was hier in dieser Nacht, auf dieser Lichtung, in diesem Wald geschehen war, würde sie niemals vergessen können. Sie hatte es überlebt. Aber um welchen Preis. Strem war tot. Das war der Satz, der in Felts Gedanken kreiste   – so schnell, dass er ihn nicht zu fassen bekam, um ihn begreifen zu können. Er drückte Ristra noch fester an sich, als ob er damit etwas wiedergutmachen könnte. Nichts würde mehr gut sein, nie mehr. Er hatte seinen Sohn doch auch geliebt, er war doch kein schlechter Vater! Felt spürte den Kloß aus Trauer und Wut, vor allem aber aus unverzeihlicher Schuld, der sich in ihm zusammenballte. Lange würde er ihn nicht mehr unter Kontrolle halten können. Er würde herauswollen.
    »Felt«, sagte Reva, »lass sie los, du zerdrückst sie ja.«
    »Oh«, machte Felt und lockerte den Griff, mit dem er Ristra umklammert hielt.
    »Lass sie einfach los.«
    Er ließ die Arme sinken. Seine Tochter blieb stehen, bewegungslos wie eine Puppe, dann drehte sie sich um und ging zu Estrid, die sie wieder an die Hand nahm.
    »Aber«, sagte Felt.
    Estrid beugte sich zu Ristra, flüsterte ihr etwas zu. Das Kind nickte, Felt sah die Locken hüpfen. Und diese Kleinigkeit, diese unbedeutende Bewegung, die aber so typisch war für Ristra, die er so oft gesehen hatte   – wenn er ihr etwas erzählte oder wenn sie etwas erzählte, was man so nicht glauben konnte, undsie ihr
Doch
! sagte, mit ebendiesem Nicken   –, dieses Detail rührte ihn so sehr an, dass er einknickte. Sein innerstes Selbst stürzte ein wie ein Dach, das den Schneemassen nicht mehr standhalten kann, und alles kam ins Rutschen und es gab keine Luft zum Atmen, denn alles war nur noch ein wildes, wirbelndes Weiß   – sonst nichts.

 
    ELFTES KAPITEL
TORVIK
     
    Feinfaserige Wolken webten ein Netz an den blauen Himmel. Ein Sirren zog durch die Luft, die voller Flocken war. Was für ein seltsamer Schnee, er fiel nicht, er umwehte sich selbst und tanzte über das Blau, geführt von einem lauen Wind, der mehr Duft war als Regung.
    Felt stützte sich auf die Ellbogen. Das hohe Gras, in dem er lag, reichte ihm bis zum Kinn. Die weißen Flocken lösten sich aus dem Grün und stiegen auf, die Massengeburt eines feenhaften Schwarms, so leicht. Er fing eine, das zarte Gebilde war weich wie Flaum. Kaum hatte er es in den Fingern, zerfiel es in fedrige Schirmchen. Auf dem Sirren sprangen die Stimmen verborgener Vögel auf und ab, bald gemeinsam, bald hüpfte eine hoch und höher und wurde doch wieder vom vielstimmigen Chor eingeholt. Aber es war kein Wettkampf, der Gesang war leicht und spielerisch und blieb in einer Harmonie, getragen vom Rhythmus plätschernden Wassers. Über den Gräserspitzen sah Felt das tiefere Grün des Waldes. Der Wald. Der Fluss.
    Felt sprang auf   – die Nacht. Diese entsetzliche Nacht, war sie vorüber?
    »Du bist Letzter!«
    Felt drehte sich um. Kersted hockte auf einem flachen Stein, barfuß, die Hosenbeine hochgekrempelt, und wusch Beeren in einem Bach.
    »Dieses Mal war ich vor dir beim Frühstück«, sagte er und warf sich eine der dicken blauen Beeren in den Mund. »Musst du probieren.«
    Felt hatte das Gefühl, seine Zunge wäre ein pelziger Wurm, er taumelte zum Wasser und ließ sich auf den Bauch fallen, tunkte den Kopf unter und trank. Das war mehr als Trinken, das war, als saugte man das Leben selbst ein, kühl und weich. Er tauchte wieder auf, Kersted reichte ihm eine Handvoll Beeren.
    »Wie konnte ich nur so lange schlafen?«, sagte Felt. »Und wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Wie habt ihr mich aus dem Boot geschafft?«
    Kersted antwortete

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