Zwölf Wasser Zu den Anfängen
dort, wo er den Kopf vermutete. Es mussten Hunderte sein, eine genaue Zahl war unmöglich auszumachen. Als Torvik die Welsen sah, erhob er sich und machte eine höfische Verbeugung – ohne seinen Redefluss zu unterbrechen. Die Männer grüßten zurück, unsicher, was von ihnen erwartet wurde. Der Junge blickte sie auffordernd an, streckte die Arme seitlich aus und hob sie in einer wedelnden Bewegung, er turnte ihnen etwas vor, das Ganze wirkte einigermaßen komisch.
»Na, macht schon«, sagte Kersted grinsend und streckte ebenfalls die Arme aus. »Ein bisschen Bewegung kann nicht schaden.«
Also ruderten sie alle drei in der Luft, die Augen zum Himmel gedreht und dankbar, dass ihre Kameraden bei den Pramern zurückgeblieben waren und sie nun nicht sehen konnten. Aber das Gewedel schien die Flugwesen anzulocken. Eines ließ sich auf Felts Hand nieder, auch auf Kersteds und Markens Händen landete eins der großen Insekten. Denn Insekten mussten es sein, auch wenn Felt sich damit nicht gut auskannte. Auf dem Berg gab es nicht viele, nur ein paar Käfer, die in den Vorräten krabbelten und gnadenlos mitgegessen wurden, und Asseln, die selbst gegen den grimmigsten Frost unempfindlich waren. Wasda auf seiner Hand hockte, war etwas völlig anderes. Zwei gläserne Flügelpaare saßen dicht hinter dem Kopf quer auf einem kurzen, kräftigen Körper, der in einen sehr langen, schlanken Hinterleib auslief. Die Augen waren übergroß und glänzten wie Schmucksteine, den Leib zierte ein Streifenmuster.
Die Flügel spannten sich ungefähr vier Hand breit, der Leib war noch länger. Er wippte leicht auf und ab, als würde das Insekt damit atmen.
»Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Utate.
»Nun ja, ja, schon beeindruckend. Groß vor allem«, sagte Kersted. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Die Quelljungfern werden im Wasser geboren und bleiben darin, viele Solder. Dann wandeln sie sich und werden Wesen der Luft. Aber sie vergessen niemals ihren Ursprung. Sie verbinden die Elemente, das ist ihr Lebenszweck.«
»Aha«, machte Kersted und es war klar, dass er nicht die Hälfte von dem verstanden hatte, was Utate gesagt hatte. Sie lächelte. »Wasser und Luft sind sich nah, aber sie sind sich nicht immer einig. Die Quelljungfern sind Botschafterinnen. Sie sprechen beide Sprachen.«
»Aha.«
»Lasst sie wieder gehen. Werft sie einfach hoch.«
Die Männer taten es. Die vogelgroßen Insekten flogen zurück ins schillernde Flirren über dem Wasser. Felt kam es vor, als sei das Licht der Sonne besonders mild hier.
»Über diesem Ort liegt ein Zauber«, sagte Utate und fasste damit Felts Gedanken in Worte. »Es gibt nichts Falsches hier. In dieser Quelle wohnt der Glaube, dass alles gut wird. Torvik hütet sie, und er hütet sie gut. Ihm ist es zu verdanken, dass dieses Wasser hier nicht versiegt.
Zwölf Wasser sollen fließen, zwölf Quellen sollen sprechen
… Hört hin, Welsen, hört genau hin.«
Die Undae im Wasser unterbrachen ihr Spiel mit den Quelljungfern. Torviks unaufhörlicher Redefluss riss mit einem Mal ab. Unwillkürlich hielt Felt den Atem an.
Das hohe, an- und abschwellende Sirren, das die Flugwesen verursachten, mischte sich mit dem tiefen, melodischen Glucksen des Wasserfalls. Jetzt, da niemand mehr redete, da alle still standen, konnte Felt es hören. Wasser und Luft sprachen. Oder war es ein Lachen? Singen? Alles zusammen? Aus der Luft: ein fröhliches, fast übermütiges Summen vieler Stimmen. Aus dem Wasser: beruhigendes, tröstendes Blubbern, das Leben geht weiter, das Leben geht weiter.
Felt holte tief Luft, musste lächeln, grinsen geradezu, dann lachte er laut auf – er hatte, warum auch immer, an die Nukklämmer denken müssen, die um diese Zeit geboren wurden und die, kaum dass sie ihre zu langen Beine sortiert hatten, wie aufgezogen über die Steilhänge hopsten.
»Ihr seid durch eure tiefste Furcht gegangen, um hierherzukommen«, sagte Utate. Die Magie des Moments erlosch, aber die gute Laune blieb.
»Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.« Kersted strahlte sie an.
»Dieser Ort muss gut geschützt werden; diese Quelle darf niemals versiegen. Kersted, kein Mensch kann es ohne Hilfe hierher schaffen. Es ist keine Schande, für dich nicht, für niemanden, nach Hilfe zu rufen. Um Unterstützung zu bitten. Das ist menschlich. In der Ausweglosigkeit, in der allergrößten Bedrängnis, gegen alle Vernunft auf Rettung zu hoffen –
das ist menschlich
. Außerdem: Die Hoffnung
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