Zwölf Wasser
berührte jeden Einzelnen, hielt bei jedem stinkenden Kadaver kurz inne, und den Soldaten, die ihr Tun mit angehaltenem Atem beobachteten, wurde auf die Art bewusst, dass diese aufgespießten Körperreste einmal Menschen gewesen waren. Das hatten sie zwar beim ersten Hinsehen erkannt, aber die Männer hatten vor allem die Grausamkeit und das Leid gesehen, den Tod und die Verwesung. Nun sahen sie das Leben, sahen kwothische Soldaten, die sich, aus welchem Grund auch immer, widersetzt hatten. Kwother, die ihre Strafe offenbar kannten und sie in Kauf genommen hatten. Neun Männer, Kameraden, vielleicht gar Freunde oder Brüder, die für ihre Überzeugung gestorben waren, gemeinsam. Smirn hatte den Toten ihre Würde zurückgegeben.
»Die Köpfe können überall sein«, sagte sie und wandte sich an Marken. »Es ist müßig, nach ihnen zu suchen. Ein kopfloser Mann kann den Weg ins Land seiner Väter nicht finden. Das ist der Sinn dieser Verstümmelung. Ein guter Sohn wird auf dem Vater bestattet, eine Generation liegt auf der vorausgegangenen, und alle schauen sie in dieselbe Richtung, alle gehen sie denselben Weg. Wer zu Lebzeiten vom Weg abgeht, sich gegen den Willen des Vaters stellt, darf ihm auch im Tod nicht folgen.«
Sie hielt inne und schaute wieder auf die gepfählten Kwother. Einige der schwarzen Vögel waren zurückgekehrt und kreisten über ihnen. Die Unterbrechung ihrer Mahlzeit dauerte den Vögeln zu lange, sie protestierten mit kurzen, krächzenden Rufen.
»Wir werden uns nicht damit aufhalten«, begann Smirn wieder, »diese Körper auf eine Art und Weise zu bestatten, die füreinen Kwother ohnehin sinnlos ist. Und erst recht werden wir kein großes Feuer machen. Meine Befürchtungen bestätigen sich. Wir müssen uns eilen.«
»Welche Befürchtungen meinst du?«, fragte Marken, obwohl er die Antwort schon kannte. »Was könnte wohl ein Anlass zum Desertieren sein?«, fragte Smirn zurück.
»Krieg«, sagte Marken rau.
Er hatte es ausgesprochen und deshalb war es nun wahr. So hielten sie es schon immer bei den Welsen: Jemand musste dem Schlimmen einen Namen geben. Jemand musste aussprechen: Dein Kind ist tot oder Deine Frau ist tot , damit der Tod wahr und begreifbar wurde. Aber konnte man den Tod je wirklich begreifen? Oder den Krieg?
»Krieg«, sagte Marken noch einmal und diesmal lauter. Die Soldaten sahen ihn an und keiner der Männer war überrascht. Aber in allen Gesichtern stand die bange Frage: Und was nun? Wenn Krieg ist, was sollen wir dann tun? Denn obwohl sie hier alle gerüstet und bewaffnet standen, hatte keiner von ihnen jemals einen ernsthaften Kampf ausgetragen, geschweige denn in einer Schlacht gekämpft.
Und nun Krieg.
Ja, nun hatte das Ungeheure einen Namen, es hieß Krieg. Er war es, der große Schlächter, er hatte die Menschen aus Hal vertrieben: der Krieg. Wo verlief die Front? Wer kämpfte gegen wen? Sie würden es bald erfahren, denn bald wären sie in Gem-Enedh angelangt. Marken hatte das deutliche Gefühl, dass sie geradewegs auf den Krieg zumarschierten.
Er wischte sich den Schweiß vom Kopf und war mit einem Mal ganz ruhig. Das Schlimme hatte einen Namen und das half. Er spürte die harten Stoppeln auf seiner Kopfhaut, es fühlte sich gut an. Der Ghajel-Gestank war längst verflogen, aber Marken behielt das Rasieren bei; sein blanker Schädel verbrannte unterder Sonne, aber den Helm vermisste Marken seltsamerweise nicht.
Es war also Krieg in Kwothien.
Er trat wieder nah an das Mahnmal des Schreckens heran, blickte zu den Knochenresten auf. Waren diese neun Kwother Feiglinge gewesen, Angsthasen, die nicht in den Krieg ziehen wollten? Marken glaubte nicht daran. Smirn hatte die Toten geehrt und das reichte ihm, um vom Mut und der aufrechten Gesinnung dieser Männer überzeugt zu sein. Die Unda hatte eine eigenartige Nähe zum Tod. Sie war es gewesen, die von der Größe des Todes gesprochen hatte, vor gar nicht allzu langer Zeit: Smirn hatte Kersted zurechtgewiesen, unten am Quellsee von Pram, als der alte Hüter Sardes Hand in Hand mit Utate bei der Quelle gestanden hatte. Die Unda war seine Tochter, die Quelle war sein Grab, sein Anfang und sein Ende … Lerne auch den Tod lieben , hatte Smirn zu Kersted gesagt, und lerne es schnell . Rückblickend erschien Marken dieser Ratschlag wie eine Prophezeiung oder wie der Leitspruch dieser Reise. Eine Reise in den Tod. Denn was sonst war ihnen bisher begegnet?
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Die plötzliche Ruhe, die Marken empfunden hatte bei der
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