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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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ahnen, was in Smirn vorging. Dennoch hätte er ohne Zögern sein Leben für sie gegeben.
    Er sah zu ihr auf und ihre Augen waren helle Monde. Siewusste genau, was ihn bewegte; Smirn konnte Marken bis auf den Grund seiner Seele schauen. Sie nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf.
    »Es dauert eine Weile, aber in ein paar Tagen wirst du den Gestank los sein. Und zu deiner Frage: Es ist nicht notwendig, diese Geschöpfe auszurotten. Die Kwother glauben, es ist gut, einen Menschen daran zu erinnern, dass Reichtum vergänglich ist   – mehr noch als alles andere. Ich teile diese Ansicht. Spätestens in der Anwesenheit des Todes sollte ein Mensch begreifen, worin der Sinn des Lebens liegt.«
    Es war kein einziger Petten mehr im Beutel, Smirn hatte alles Geld an die Ghajels verfüttert.
    »Mir scheint vor allem der Tod bei den Kwothern eine kostspielige Angelegenheit zu sein. Man muss zu Lebzeiten viel sparen, um sich dort eine Beisetzung leisten zu können. Es sei denn, man will sich bespucken lassen und gleich an Ort und Stelle an diesem tödlichen Gestank zugrunde gehen.« Marken machte eine Geste zur Totenstadt hin. Die Fassaden hatten sich im Mondlicht mit einem dunklen Glanz überzogen. Der Trupp lagerte nicht unweit des Eingangsportals, aber die Ghajels waren ihnen nicht gefolgt.
    »Es sind Nachtwesen«, sagte Smirn nur und begann wieder, auf und ab zu gehen. Marken stützte sich auf die Ellbogen, legte den Kopf in den Nacken. Schaute in die Sterne, holte tief Luft. So langsam ging es ihm besser.
    »Du meinst also, bei Tag wäre das nicht passiert?«, fragte er.
    »Ghajels scheuen die Sonne, tagsüber ruhen sie in den Schatten. Sie waren lange vor den Menschen hier und sie kennen ihren Platz. Sie laufen nicht in die Totenhallen, sie verlassen die Totenstädte nicht. Jedenfalls nicht freiwillig, dort ist ihre Zuflucht. Dort ist ihre Zeit … Wenn du meinst, es sei kostspielig, sich die Tiere vom Hals zu halten, hast du keinen Schimmerdavon, wie teuer es wäre, einen Ghajel aus einer Nadhina-Mmet herauszulocken.«
    »Wozu sollte das gut sein? Wer will schon einen solchen Stinker haben?« Marken setzte sich wieder auf. »Außer als Waffe vielleicht.«
    »Oder als Wächter.«
    »Wenn man sich das Futter leisten kann …«
    Über Smirns Gesicht huschte ein Lächeln. Marken strich sich wieder über seine stoppelige Kopfhaut. Eigentlich fühlte es sich nicht schlecht an.
    »Ihre Zuflucht, ihre Zeit, sagst du … Wie meinst du das?«
    »Ich sagte es bereits: Die Ghajels sind Geschöpfe der Alten Zeit.«
    »Ich weiß nicht viel über dieses Zeitalter«, sagte Marken. »Und ich dachte, es sind alles nur Legenden.«
    »Nur?«, fragte Smirn knapp. Aber ihrer rauen Stimme fehlte die übliche Strenge. Sie schien an diesem Abend in einer ungewöhnlich aufgeschlossenen Stimmung zu sein. Und tatsächlich, sie sprach weiter: »Alle Legenden haben einen wahren Kern. Manchmal ist er für spätere Generationen nicht mehr erkennbar, denn das Denken verändert sich, Dinge bekommen eine neue Bedeutung und die alte wird nicht mehr verstanden. Oder vergessen. Das ist weder gut noch schlecht, das ist der Lauf der Zeit. Damals verstanden die Menschen andere Dinge als heute; sie verstanden einander nicht, aber sie verstanden die Welt: den Wind, das Ächzen im Stein, das stete Murmeln des Wassers.«
    Smirn stand wieder still und blickte auf Marken herab, der während ihrer Rede einige Zweige ins Feuer zwischen ihnen gelegt hatte. Es loderte auf und die Flammen beleuchteten das Gesicht der Unda. Im rötlichen Schein kam es Marken so vor, als ob die Narbenranken auf der dunklen Haut verschwänden und ein goldener Glanz in die wimpernlosen Augen trat. Erkonnte sich mit einem Mal vorstellen, wie Smirn aussähe, wäre sie keine Unda: Ein glattes, stolzes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Gerade, schwarze Brauen über bernsteinfarbenen Augen. Er sah sogar ein breites Lächeln volle Lippen über weiße Zähne ziehen und pechschwarzes Haar in vielen steifen Zöpfen auf die Schultern stoßen.
    Als sie sich abwandte, mit einigen Schritten den Lichtkreis des Feuers verließ und in die Nacht tauchte, sah Marken ihren nun wieder kahlen Kopf im Mondlicht schimmern und er begriff: Die Alte Zeit war Smirns Zeit gewesen. Nicht nur die Ghajels hatten bis heute überdauert, sondern auch die Hohen Frauen. Sie hatten sich verändert, sie waren Undae geworden. Aber sie hatten die alten Bedeutungen nicht vergessen. Sie waren das Gedächtnis der Welt. Und sie

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