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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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Hunger und er selbst hatte keine Chance. Nein, so sollte es nicht zu Ende gehen! Babu wollte nicht zerrissen werden von der eigenen Angst, die Gestalt angenommen hatte. Er wollte als Mensch sterben, nur das, mehr nicht.
    Der Dolch! Nimm den Dolch.
    Ja, das war schon ein Mal gelungen. Juhut hatte es ihm eingegeben, damals, in den Galaten, im Zwischenreich der Welten von Leben und Tod, als er dem Rudel das erste Mal begegnet war. Doch heute erhielt Babu keine solchen Eingebungen von der Szasla mehr und er hatte auch keinen Dolch.
    Aber auch wenn der Faden zwischen dem Falken und dem jungen Merzer dünn geworden war, aufgegeben hatte die Szasla Babu noch nicht. Juhut war zwar fern, aber noch da und nun stürzte er aus dem Himmel wie ein fallender Stern. Das weiße Gefieder leuchtete auf; so schnell kam der große Falke herabgeschossen, dass der Wolf ihn spät bemerkte. Gerade noch rechtzeitig duckte er sich weg, wich den tödlichen Klauen aus, jaulte erschrocken auf und sprang davon. Die Flugkünste des Falken waren atemberaubend, Babu hatte das beinahe vergessen. Er beobachtete staunend, wie geschickt Juhut den Fall abbremsen konnte und scheinbar mühelos, mit nur drei Schlägen der breiten Schwingen, die Richtung wechselte und einen Baum ansteuerte. Als er sich auf einem tiefen Ast niederließ, stob trockener Schnee auf.
    »Du …«
    Babu räusperte sich, denn seine Stimme brach weg. Er hatte das Gefühl, seit Langem nicht mehr gesprochen zu haben. Er ging ein paar Schritte auf den Falken zu. Die Nähe war ihm vertraut und gleichzeitig fremd geworden.
    » Du warst es, der zurückwollte, du wolltest Wiatraïn wieder verlassen. Felt hat mich zwar gefragt, ob ich mich ihm anschließen wolle, ob ich mitmachen wolle bei diesem irrsinnigen Vorhaben   – der Rettung der Welt! Aber geantwortet habe ich in deinem Sinne. Ich konnte nicht mit deiner Stimme sprechen. Aber mit meiner eigenen auch nicht. Ich konnte kein Szasran sein   – und auch nicht ich selbst. Ich wäre geblieben!«
    Juhut drehte nur seinen Kopf, saß sonst reglos.
    »Du bist nicht mein zweites Herz, wir schlagen nicht gleich. Auch darin habe ich mich getäuscht. Aber was bist du wirklich?«
    Babu war nun auf doppelter Armeslänge an Juhut herangetreten, der nach wie vor ruhig auf dem Ast saß, auf Babus Augenhöhe. Lange blickte der junge Mann den großen weißen Vogel an. Dann hob er eine Hand, den Kristall zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Babu hielt ihn nicht direkt vors Auge, sondern zwischen sich und den Falken. Klein erschien ein Bild, ein einziges nur, im glasklaren Stein. Babu kniff ein Auge zu, konzentrierte sich. Der Juhut auf dem Ast wurde unscharf   – und der im Stein deutlich. Und wahrhaftig: Das Abbild der Szasla entsprach ganz genau der Wirklichkeit. Es konnte höchstens sein, dass die Verkleinerung im Kristall noch klarer, noch schärfer war als der leibhaftige Falke. Alles an ihm war tödlich, war Waffe   – der Schnabel, die Klauen, sogar seine Augen, diese alles sehenden, stechenden Augen. Babu fühlte sich aufgespießt von diesem Blick. Keine Wärme, kein Gefühl war in dem Auge, das im Kristall immergrößer zu werden schien. Sondern nur eine schneidende Intelligenz.
    »Ich will kein Werkzeug sein«, sagte Babu halblaut. »Ich will nicht benutzt, ich will gebraucht werden. Verstehst du den Unterschied?«
    Juhut starrte ihn an, durch den Stein hindurch.
    »Natürlich verstehst du den Unterschied. Du verstehst alles. Aber du empfindest nichts. Du kennst keine Angst und keine Trauer   – und keine Liebe, keine Freude.«
    Keine Regung beim Falken.
    »Ich bin nicht mehr bereit, schuld zu sein. Ich bin nicht mehr bereit, Schmerzen zu haben. Ich will nicht mehr von dir wie ein Kalb am Strick herumgezerrt werden!«
    Juhut schüttelte sich, er zitterte. Nein. Was da zitterte, war nur Babus Hand. Noch immer hielt er den Zweispat zwischen sie. Da, plötzlich, ertönte der hohe Ruf des Falken und Babu zuckte erschrocken zusammen; um ein Haar hätte er den Kristall fallen gelassen. Bis Babu die Umgebung wieder vollständig wahrnahm, hatte Juhut bereits die Schwingen entfaltet und war dabei abzuheben. Noch einmal rief er. Noch einmal erschütterte dieser Ruf Babu bis ins Mark.
    »Hör auf!«, schrie er. »Lass mich endlich in Ruhe! Hau ab! Flieg! Flieg und komm nie wieder! «
    Und dann, ohne dass er wusste, was er tat, schleuderte Babu den Stein gegen den auffliegenden Falken. Er traf. Kurz hing Juhut schräg in der Luft, den Hals seltsam

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