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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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Verachtung war die Antwort auf Hunderte von Soldern Überheblichkeit gegenüber den Menschen der Wüste, die in ihrem Denken, ihrer Lebenseinstellung und ihren Werten nicht mit dem Rest Seguriens fortgeschritten waren. Sondern einfach dort stehen geblieben waren, wo sie alle, die über die Südliche Herkunft auf den Kontinent gekommen waren, einmal angefangen hatten. War das nun schlecht? War diese Art zu leben nicht die einzig mögliche in der Marga? Ach, was kümmerte ihn das, was theoretisierte er hier herum   – Helgend musste sich etwas zu essen besorgen, seine Zeiten als Denker waren vorbei. Unter der Last seines Schicksals stöhnend, erhob er sich und griff seinen Umhang; ein seit Tagen anhaltender Schneeregen verschlimmerte die Kälte mit einer Nässe, die einem bis in die Knochen kroch.
4
    Die Beben hatten zwar Helgends Haus bisher nicht viel anhaben können   – noch waren sie nicht verheerend heftig   –, aber sie hatten die Stadt vollkommen verändert. Denn die Erdstöße rüttelten nicht nur an den Gebäuden, sondern vor allem an den Menschen. Das lebendige und gleichzeitig beschauliche Gaspen, durch den Eldron mit den großen Städten des Kontinents, Agen und Pram, zwar verbunden, aber frei von deren Dekadenz, war zu einem Ort des Jammers und der Angst geworden. Die Straßen waren voller Menschen ohne Ziel   – jeden Tag kamen noch mehr aus Nirwen, den Bergen und den Weiten der Wüste. Es war kaum zu glauben, dass sie dort unter Wassermangel litten, wo man doch hier durch den Matsch stapfen musste.
    Helgend hatte noch Geld, sein Versteck hatten die Eindringlinge nicht gefunden, aber er hatte schnell feststellen müssen, dass ihm die Münzen nicht mehr viel nützten   – und auch nicht lange reichen würden: Ein Stück Brot kostete inzwischen so viel wie früher ein halbes Rind, an einen Apfel war nicht zu denken. Wer einen Hof hatte oder auch nur ein paar Hühner hielt, war besser dran als er, Helgend, der drei Sprachen mit ihren diversen Dialekten sprach und die Hauptwerke Barmdens des Älteren auswendig aufsagen konnte. Wissenschaft und Gelehrsamkeit, die hohen Werte der Seguren, die wahren Schätze dieses Landes, galten nichts mehr. Helgend musste um sein Essen betteln.
    Er war nicht der Einzige, den die Nahrungssuche umtrieb, aber immerhin kannte er noch ein paar wohlhabende Leute und so klapperte er erst die Stellen ab, wo er hoffen konnte, dass man ihm etwas vom Wenigen abgezweigt hatte. Heute jedoch war das nicht der Fall, der Regen machte die Menschen noch übellauniger; man schickte ihn weg wie einen räudigen Streuner. Als Helgend am östlichen Marktplatz ankam, dem größeren der beiden Versammlungsorte der Stadt, bebte der Boden das erste Mal an diesem Tag. Um den Brunnen herum hatte sich ein Zeltlager gebildet, und obwohl ein zusammenfallendes Zelt keine besondere Gefahr darstellt, stürzten die Menschen heraus. Als ob der Blick in den grau verhangenen Himmel etwas wiedergutmachen könnte. Das war ihm schon vor Längerem aufgefallen: Entweder kauerten sich die Menschen wimmerndzusammen, Arme über dem Kopf, oder starrten nach oben und rannten dann meist los, panisch, über den zitternden Untergrund. Kaum jemand blieb einfach stehen oder sitzen und wartete ab.
    Er schon. Er hielt es aus, stand ruhig, ließ sich schubsen und im Vorbeilaufen beschimpfen, hörte zu, wie die Erde rumorte, die Gebäude ächzten und die Kinder weinten. Er sah, wie Tränen und Regen sich vermischten und wie sich tiefe Risse im Pflaster binnen kürzester Zeit mit Schlamm füllten. Und er sah hier einen Krug, unbeaufsichtigt, und dort ein Säckchen, angebunden an eine Zeltstange und auf die Art geschützt vor der Nässe und den Ratten. Aber nicht vor den klammen Fingern des hungrigen alten Mannes. Wenn die unruhige Erde die Menschen durcheinanderbrachte, stahl Helgend alles, was er kriegen und tragen konnte. Und dann erst rannte auch er, so gut er konnte   – zum Hafen, zum Ufer des Eldrons, dessen Anblick das Einzige war, das ihn dieser Tage noch beruhigen und manchmal sogar trösten konnte.
5
    Am Hafen war es vergleichsweise menschenleer, insbesondere die Swaguren schienen die Nähe des Wassers eher zu scheuen und kamen selten hierher. Wer ein Boot besaß, sei es als Händler oder Fischer, hatte sich samt Familie dorthin zurückgezogen. So ein Boot ließ sich besser verteidigen und bewachen als ein Haus   – außerdem konnte es nicht einstürzen und schaukeln tat es ohnehin. Unter den Bootsleuten

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