Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
Vom Netzwerk:
ihm ginge. Sie war es, sicher.
    Er hatte einen Hügelkamm erreicht, Teleias Tal lag inzwischen weit hinter ihm. Über schneebestäubte Hügelkuppen blickte er in eine weitere sanfte Senke. Nach allen Richtungen war das Land im Mondlicht vor ihm ausgebreitet, nichts verbarg sich vor Babu, weder Himmel noch Erde. Es war, als ob das offenherzige Wesen der Quellhüterin noch bis hierher wirkte und sich in der Landschaft abbildete. Babu brauchte sich nicht zu sorgen, dass ihm, unbewaffnet, wie er war, irgendetwas auflauerte. Denn der wahre Schrecken, das größte Ungeheuer versteckte sich nicht in einem Dickicht oder hinter einem Stein und es kauerte auch nicht in einer Bodensenke. Es verbarg sich in Babu selbst. Er trug es bereits die ganze Zeit über mit sich. Und in dieser Nacht, gerade eben, war es aus ihm heraus- und hinter ihn getreten und hatte zu ihm gesprochen.
2
    Es gab kein Ziel. Babu wollte nirgends ankommen, er wollte nur weggehen. Er streifte umher, wanderte durch die spärlich mit kahlen Bäumen und froststarren Sträuchern bewachsene Hügellandschaft. Denn wo sollte, wo konnte Babu noch hin? Die große Gelegenheit war vertan: Er hatte den Kontinent bereits ein Mal verlassen. Was genau hatte ihn eigentlich dazu gebracht, zurückzukehren?
    Juhut.
    Unwillkürlich legte Babu den Kopf in den Nacken. Dort oben war er, zog seine Kreise und hielt Babu fest. Welch ein Gefühl von Freiheit hatte es ihm früher gegeben, den Falken am Himmel kreisen zu sehen. Wie weit war sein Herz geworden   – zwei Herzen, das eine so groß wie das andere, beide schlagen gleich . Ja, und sogar der Name des Falken entsprang diesem Gefühl: Juhut-ras, zweites Herz. Aber stimmte das denn? War das Gefühl wirklich so frei, groß und verbindend? Oder war auch das nur eine Täuschung gewesen, eine Einbildung, weil er es sich so sehr gewünscht hatte? Hatte der Falke ihm nicht vielmehr Kummer gebracht und Schmerz? Von dem Augenblick an, als er das Ei in Empfang genommen hatte, war Babus Leben zerbröckelt. Erst hatte er seine Herde aufgeben müssen, danach seine Heimat. Schließlich seinen Freund.
    Babu senkte das Kinn auf die Brust. Er hakte die Daumen in den schmalen Ledergürtel, mit dem er den wollenen Kittel enger um seinen immer noch mageren Leib gebunden hatte. Da spürte er etwas unter dem filzigen Stoff. Babu griff sich in den Ausschnitt des Kittels und holte den Zweispat hervor. Er wog den großen Kristall in der Hand. Wann hatte er den denn dort hineingesteckt? Es gab kaum etwas weniger Sinnvolles, das er hätte mitnehmen können   – einen hölzernen Löffel vielleicht.
    Wirf ihn fort.
    Sie war bei ihm. Auch Juhut war noch bei ihm   – aber sie war Babu näher. Viel näher. Wenn er ganz still stand, konnte er ihren warmen Atem in seinem Nacken spüren. Er kämpfte den Wunsch nieder, sich blitzschnell umzuwenden, den Zweispat vorm Auge. Er wusste: So einfach war es nicht, so einfach ließ sie sich nicht überlisten. Sie würde dort bleiben, hinter ihm, immer gerade außerhalb seines Blickfeldes. Und ihm Dinge zuflüstern. Aber sehen könnte er sie erst, wenn er sich dazu durchränge, sie sehen zu wollen . Es ging nicht darum, sich kurz einmal umzuwenden. Er müsste sich ihr zuwenden , und zwar ganz.
    Wirf ihn doch fort. Du brauchst ihn nicht mehr.
    Babu zögerte, obwohl er den Kristall eigentlich nicht mehr haben wollte   – dieses in der Tat nutzlose Geschenk eines Mannes, dem er vertraut hatte. Dem er sein Leben anvertraut hatte und der ihn, wie alle anderen auch, enttäuscht hatte. Eine einzige Bitte hatte Babu an Felt gerichtet und er hatte sie ihm verwehrt. Er war ohne Gnade und seine Weigerung hatte Babu den allerletzten Anstoß gegeben, sich von allem Menschlichen abzuwenden und die Einsamkeit zu suchen. Sie hatte recht: Auf wen sollte er den Zweispat richten, wessen wahre Gestalt sollte er erkennen? Hier war niemand. Außer einem Dämon, der ihm im Genick saß. Dennoch konnte Babu den Kristall nicht wegwerfen, noch nicht. Er wollte nicht so schnell klein beigebenund folgsam sein. Der Stein war nicht schwer, er belastete ihn nicht. Babu schloss die Faust um den Kristall und ging weiter.
    Da sah er den Wolf.
    Er saß einfach da, keine zwanzig Schritt entfernt, ganz ruhig, und im dichten schwarzen Fell auf seiner Brust hingen Eiskristalle. Die Wolken seines heißen Atems schlugen sich dort nieder und gefroren in der kalten Luft. Seine Augen glühten und sie hatten Babu fest im Blick. Babu wusste: Dieser Wolf hatte

Weitere Kostenlose Bücher