Zwölf Wasser
wieder angesetzt. Zwei Boote. Und was da wie festgenagelt am Bug des kleineren stand, war zwar dunkel und fremdartig, aber ganz sicher kein Euler. Als er das schaukelnde, verschwommene Bild im Fernglas endlich erfasst und scharf gestellt hatte, wäre ihm das kostbare Stück beinahe vor Schreck aus der Hand geglitten. Eine leibhaftige Unda – und sie sah noch viel geheimnisvoller aus als in den alten Geschichten beschrieben.
In den Schriften, die Kapitän Rigl mit Vorliebe las, wurden die Undae nur am Rande erwähnt. Neben allem, was es über Navigation und Wetter, Wellen und Strömungen, über die Seefahrt auf dem offenen Meer im Allgemeinen und über Küstenschifffahrt im Besonderen zu lesen gab, verschlang Rigl besonders gern Geschichten über Wesen, die im Dunkel der Tiefsee verborgen waren oder in den Weiten des Himmels hausten. Er fuhr lange genug zur See, um das meiste davon für wahr zu halten. Die Undae wurden in einigen ingrischen Büchern auch Gewesene genannt, womit darauf angespielt wurde, dass sie einmal menschlich gewesen sein sollten. Sie entstammten der Alten Zeit und waren dem Wasser eng verbunden. Aber, und das war der Punkt, an dem Rigls Interesse schwand, nicht dem Wasser, aus dem seine Welt hauptsächlich bestand. Er hatte beim Lesen über die Undae sogar eine milde Abneigung gegen diese Gewesenen gefühlt; aus demselben Grund, aus dem er sich auch jedem Binnenschiffer überlegen fühlte: Das Süßwasser brachte zwar das Leben für die Menschen. Aber die wahre Ehrfurcht musste dem Salzwasser gelten. Denn es barg noch viel mehr Leben als das Wasser des Landes, und es barg gleichzeitig den Tod. Den Ozean zu befahren erforderte großen Mut. Jeden Tag rang das Meer Kapitän Rigl Respekt ab und er wusste, würde er diesen Respekt auch nur einen Augenblick vergessen, wäre das sein Ende. Das Meer war alles, forderte alles – und gab alles zurück. Wer konnte je Erhabenheit empfunden haben, der nicht am Bug eines schnellen Seglers wie der Auriga gestanden hatte, das Tosen des Winds in den Ohren, brennendes Salz in den Augen und das Herz so groß, so weit wie das Meer ringsum? Ein Flussschiffer auf dem Eldron, der sich stromaufwärts von Pferden oder armen Kerlen an einer Leine ziehen lassen musste? Nein. Wer nicht das Meer befuhr, der wusste nichts vom Wasser. Gar nichts.
Das dachte er, aber dann blickte aus der Ferne und durch das Glas gleichzeitig ganz nah eine Unda in Rigls Auge und dahinter bis hinab in seine Seele. Dort sah sie, gut verpackt in ein sanftes Gemüt, seine Überheblichkeit schlummern. Sie tippte sacht an Rigls heimlichen Hochmut gegenüber all denen, die nicht das taten, was er tat, nicht wussten, was er wusste, und er ließ das Glas sinken. Setzte es nicht mehr an, sondern wartete geduldig, bis alle an Bord waren.
Er fühlte Scham. Denn was wusste er wirklich? Wenig. Und als er schließlich auf die Gewesene zuging, um sie an Bord willkommen zu heißen, war er ganz erfüllt von etwas, das er lange nicht empfunden hatte: Demut.
In Gaspen,
Kerst im Solder 107 tergde
Verehrter Kollege,
wenn es nicht so traurig wäre, würde ich mich freuen, endlich auch einmal recht gehabt zu haben. In meinem letzten Brief berichtete ich von meiner Furcht, nach Hause zu kommen, erinnert Ihr Euch? (Ihr erinnert Euch sicher, Ihr lest die Briefe schließlich hintereinander weg, das vermute ich wenigstens und das muss ich mir beim Schreiben immer wieder in Erinnerung rufen.)
Nun, Gaspen hat sich seit meiner Abreise sehr verändert. Zuerst: Es wimmelt von Swaguren und ich schäme mich nicht mehr, diese üble Titulierung zu verwenden, denn kein Name kann finster genug sein für diese Leute. Stellt Euch vor, Wigo, sie haben mir mein Haus genommen!
Mein Haus!
Das Wüstenpack hat mir mein Zuhause weggenommen. Es mehr oder minder besetzt und mir selbst nur eine kleine Kammer gelassen. Ich kam zurück und fremde Leute saßen in meiner Stube, fremde Kinder spielten mit meinen Gerätschaften, ach, was sage ich: Sie zerschlugen meine kostbaren Instrumente. Verzeiht, mir zittert die Hand so sehr, ich kann kaum schreiben und muss mich kurz fassen, auch um meiner seelischen Gesundheit willen. Die Zustände hier zu beschreiben erschöpft mich, daher will ich nur einige wenige Stichpunkte festhalten.
Die Einwohnerzahl unseres Städtchens hat sich verdoppelt.
Den Söldnern aus Nirwen sind gewöhnliche Leute gefolgt.
Nirwen vertrocknet und versandet, heißt es, ein Leben dort sei kaum mehr
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